Badass

Door stylesti

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Dass eine einzige Party das Leben der siebzehnjährigen Rebecca völlig auf den Kopf stellt, hatte sie nicht ko... Meer

0 | Schuld
1 | Die Party
2 | Der schöne Unbekannte
3 | Der imaginäre Hund
4 | Predigten und Strafen
5 | Babysitten mit Links
6 | Caleb
7 | Geständnisse und andere Katastrophen
8 | Heilige Scheiße
9 | Pizza
10 | Eine Entschuldigung
11 | Daddy
12 | Erste Annäherungsversuche
13 | Gorillas
14 | Wutausbruch
15 | Krankenschwester Beccs
16 | Arschlöcher bleiben Arschlöcher
17 | Hass und Liebe
18 | Ein Tritt in den Schritt
19 | Ein unerwarteter Anruf
20 | Alecs andere Seite
21 | Der Morgen danach
22 | Rote Spitze
23 | Ein Abschiedskuss
24 | Eine teuflische Idee
25 | Rache ist süß
26 | Schnüffeln muss Gelernt sein
27 | Ablenkungsmanöver a la Becca
28 | Lügen
29 | Dr. Moranis
30 | Eifersüchtig?
31 | Erwischt
32 | Nicht wie die anderen
33 | Du bist schön
34 | Das erste Date
35 | Ich liebe ihn
36 | Stolz
37 | Schokoeis heilt alle Wunden
38 | Fehler
39 | Trauer
40 | Es tut mir leid
41 | Liebe
43 | Dunkelheit
44 | Ein paar Antworten
45 | Fiese Gedanken
46 | Das fünfte Rad am Wagen
47 | Ich will nur reden
48 | Nur ein einziges Mal
49 | Alles und nichts
50 | Lasagne
51 | Sein wahres Gesicht
52 | Brüder
53 | Der Anfang vom Ende
54 | Danke
55 | Leb wohl
56 | Das Ende der Party
Danksagung
Badass Spin-off
Kickass
Kickass 2.0

42 | Fragen über Fragen

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Door stylesti

• Safetysuit - Find A Way •

Alec und ich sind zusammen. Ich kann es immer noch nicht fassen. Auch nach einigen Tagen kann ich immer noch nicht glauben, dass wir ein Paar sind. Es fühlt sich so unwirklich an, als wäre all das nur ein Traum, aus dem ich jeden Augenblick aufwachen könnte, aber ich möchte nicht, dass das ein Traum ist und wenn doch, dann möchte ich nie wieder aufwachen.

Es ist unglaublich. Alecs Finger, die mit meinen ineinander verschränkt sind. Sein Daumen, der über meinen Handrücken streicht. Die Wärme in seinem Blick, als er mich ansieht und mich küsst. Dieses Mal fühlt es sich nicht falsch an. Nichts fühlt sich falsch an.

Heute ist Samstag. Das Einkaufszentrum ist nur so überfüllt mit Menschen. Familien, Pärchen, Jugendlichen und einzelnen Menschen, die noch einige Einkäufe zu erledigen haben. Eigentlich habe ich etwas gegen überfüllte Orte, aber mit Alec an meiner Seite überlebe ich auch das, denn in diesem Moment ist er alles, was ich sehe.

Er bleibt so plötzlich stehen, dass ich in ihn hereinlaufe. Verwirrt schaue ich auf. Caleb dreht sich zu uns um und schaut von mir zu seinem Bruder. Alec lässt meine Hand los, kramt in seiner Hosentasche nach seinem Portemonnaie und drückt Caleb einen Fünfziger in die Hand. »Wir warten hier, alles klar?«

Caleb nimmt den Schein nickend entgegen und rennt dann in den Game Stop, um sich sein neues Videospiel zu kaufen.

Wir sind heute den ganzen Weg in die Stadt herausgefahren, damit Caleb sich dieses Spiel kaufen kann. Auch wenn ich nicht weiß wieso er auf einmal ein neues braucht, da ich ihm letztens erst eins zu meinem Geburtstag (wenn auch nicht wirklich beabsichtigt) geschenkt habe, aber ich beklage mich nicht. Wir sind zwar nur wegen ihm hier, aber es tut gut einfach mal mit Alec etwas zu tun, dass richtige Pärchen machen würden. Die meiste Zeit hocken wir nämlich zu Hause herum, lernen und reden ab und zu miteinander.

Das Date an meinem Geburtstag kommt mir vor, als wäre es Jahre her. Ich würde gerne noch einmal etwas zu zweit unternehmen, aber dazu fehlt es mir und ihm im Moment an Zeit. Alec ist mit seinem Studium beschäftigt und ich hänge mich in die Schule, damit ich meinen Schnitt halte.

Als der Kleine um die Ecke verschwunden ist, lehne ich mich gähnend gegen die Wand. Alec sieht mich an. »Schon erschöpft?«

»Shoppen ist nicht so meins«, gestehe ich und beobachte die vielen Menschen, die an uns vorbeilaufen. Vor allem nicht an einem überfüllten Samstagmorgen. Diese Unruhe und Hektik von den Menschen macht mich ganz verrückt, als würde sie auf mich abfärben. Sie rennen an uns vorbei, schauen aneinander gar nicht richtig an. Es ist fast so, als würde jeder für sich selber leben, anstatt miteinander zu leben.

Alec beugt sich grinsend zu mir vor und küsst mich. Er schmeckt gut. Einfach nach ihm selbst, nach etwas, das ich liebe. Seine Hand tastet sich langsam über meinen Rücken bis zu meinem Nacken. Ich liebe es, wenn er mich so berührt; so vorsichtig, als wäre ich etwas Kostbares.

Er schiebt meine Haare zur Seite und sieht mir in die Augen. Seine Augen sind so schön. Jedes Mal wenn ich ihn ansehe, bin ich überrumpelt. Selbst nach Monaten irritieren mich seine verschiedenen Augenfarben noch. Aber es fühlt sich gut an, schön, als würde ich in ihnen versinken. Sein Blick nimmt mich vollkommen ein, taucht mich unter und lässt mich nie wieder frei.

»Wieso siehst du mich so an?«, frage ich grinsend und werde rot. Ich möchte wegschauen, aber er legt seinen Zeigefinger unter mein Kinn und hebt mein Gesicht wieder an. »Dich anzusehen, macht mich einfach nur glücklich.«

Alec nimmt meine Hand in seine. Es fühlt sich gut an, meine Hand fühlt sich wohl in seiner, irgendwie sicher und behütet. Nicht, dass ich seinen Schutz nötig hätte, aber es fühlt sich trotzdem gut an, zu wissen, dass da jemand ist, der zu einem steht, wenn es hart auf hart kommt.

»Ich-« Plötzlich hält er mitten im Satz inne. Irritiert schaue ich zu ihm auf, aber sein Blick löst sich von mir und er schaut auf irgendetwas neben mir. Er lässt meine Hand so abrupt los, dass ich die Augenbrauen verwirrt zusammenziehe. Was ist denn jetzt los? Ich drehe langsam den Kopf, um zu sehen, was der Grund für sein komisches Verhalten ist, als Caleb um die Ecke gerannt kommt. Er sieht sich panisch um und als er vor uns zum Stehen kommt, schnappt er hastig nach Luft.

»Was ist los?«, frage ich mit gerunzelter Stirn.

»Wo ist dein Spiel?«, schießt Alec mit der nächsten Frage um sich und erst da fällt mir auf, dass Caleb mit leeren Händen herausgekommen ist. Der Fünfziger steckt immer noch vorne in seiner Hosentasche. Aber der Kleine beachtet unsere Fragen gar nicht, stattdessen läuft er hektisch an uns vorbei, nimmt Alecs und meine Hand und versucht uns hinter sich herzuziehen. »Lasst uns gehen.«

»Und dein Videospiel?« Ich drehe mich verwirrt zum Game Stop, um zu sehen, was ihn so in Aufruhr bringt, aber ich sehe nichts. Jedenfalls nichts Außergewöhnliches, aber das ergibt keinen Sinn. So wie ich Caleb inzwischen einschätzen kann, würde er niemals einfach so auf ein Spiel verzichten. Das passt nicht zu ihm.

»Gab es nicht«, antwortet Caleb nur knapp und zerrt weiter an Alecs und meiner Hand.

»Moment, Caleb. Warte mal«, ruft Alec seinem kleinen Bruder zu und hält ihn fest. Er runzelt die Stirn und versucht anscheinend die Situation zu verstehen. Das kann ich ihm nicht verübeln, Caleb benimmt sich gerade mehr als nur merkwürdig.

Unruhig schaue ich zwischen den Brüdern hin und her, als ich auf einmal ein paar Kerle hinter mir laut lachen höre. Als ich dieses Mal den Kopf drehe und zum Laden zurückblicke, verstehe ich, wieso Caleb so nervös ist. Die Gorillas, die die Caleb vor ein paar Monaten in der Schule verprügelt haben, kommen gerade lachend aus dem Laden. Eine Sekunde lang befürchte ich, dass sie auf uns zusteuern werden, aber sie drehen um und gehen in die andere Richtung. Sie scheinen uns nicht gesehen zu haben.

Ich zupfe an Alecs Ärmel. Er sieht mich an und dann in die Richtung in die ich mit dem Finger zeige. Jetzt verstehe ich, wieso Caleb so schnell hier weg wollte. Ich werfe dem Kleinen einen Blick zu, aber er versteckt sich hinter seinem Bruder. Alec scheint so etwas wie ein Schutzschild für ihn zu sein. Jemand, der sich immer, in jeder Situation vor ihn stellen und ihn beschützen würde. Für Caleb würde Alec wohl auch durchs Feuer gehen.

Plötzlich spannt sich Alec neben mir an. Er scheint die Jungs auch wiedererkannt zu haben. Ich kann sehen, wie er mit dem Kiefer mahlt, als sein Blick an den Kerlen hängen bleibt. Der Zorn, der in seinen Augen aufblitzt, macht selbst mich nervös, obwohl er nicht einmal mir gilt. Er tritt einen Schritt vor. »Ich mach die-«

»Nein, nein, nein, Alec. Du machst gar nichts.« Ich lege meine Hände auf seinen Brustkorb, um ihn zurückzuhalten, als er drauf und dran ist diesen Jungs hinterher zu rennen.

Wenn Alec minderjährige Jungs zusammenschlägt, und das mitten in einem Einkaufszentrum, bin ich mir sicher, dass das Konsequenzen mit sich tragen wird und weil ich befürchte, dass er jeden Augenblick auf die Kerle springen und sie schlagen wird, greife ich nach seiner Hand. Ich verschränke meine Finger mit seinen und streiche beruhigend mit dem Daumen über seinen Handrücken. Natürlich ist das nicht die beste Strategie, um einen wütenden Alec zu beruhigen, aber mir fällt einfach nichts besseres ein.

Er sieht mich komisch an, als wäre ich diejenige, die von jetzt auf gleich herum wütet, doch dann presst er die Lippen aufeinander und atmet tief ein und aus. Alec sieht mir fest in die Augen und irgendwann entspannt er sich tatsächlich.

Im nächsten Moment verschwinden die Gorillas lachend um die nächste Ecke. Erleichtert atme ich auf.

»Was haben sie getan? Haben sie dich wieder geschlagen?« Alec schreit beinahe. Ich halte ihn an seinem Arm fest, damit er sich nicht gleich umentscheidet und den Jungs doch hinterher rennt, um sie zu verprügeln. Dass er wütend ist, ist wohl nicht zu übersehen. Einige Leute schauen sich zu uns um, tuscheln leise miteinander, gehen dann aber weiter.

Caleb schüttelt den Kopf. »Nein.«

Alec wird nur noch wütender, Calebs Antwort scheint ihn nicht zu beruhigen. Er beugt sich zu seinem kleinen Bruder vor und sieht ihm fest in die Augen. »Ich meins ernst. Lüg mich nicht an, Caleb.«

»Ich lüge dich nicht an!« Caleb schaut seinem Bruder in die Augen, ohne auch nur einmal zu blinzeln. So stark und selbstbewusst wie in diesem Augenblick habe ich ihn noch nie gesehen. Es gibt Augenblicke in denen nicht zu übersehen ist, dass die beiden Brüder sind und das hier ist einer davon. Wie Caleb da steht und seinen Bruder wütend anfunkelt, erinnert er mich ein wenig an Alec. An eine ruhigere, nicht ganz so impulsive Version von Alec.

Er ballt seine Hände zu Fäusten, aber er bleibt stets gefasst. »Ich habe sie gesehen und bin weggelaufen. Mehr ist nicht passiert.«

Alecs Augen werden zu Schlitzen, aber er klingt schon wesentlich ruhiger und sanfter. Seine Stimme ist leiser, so leise, dass die Leute um uns herum, uns keine Beachtung mehr schenken. »Und in der Schule?«

Caleb seufzt und sieht mich an, ohne die Frage seines Bruders zu beachten. »Bekomme ich ein Eis?«

Ich möchte gerade den Mund öffnen, da redet Alec. »Caleb«, knurrt er unter zusammengebissenen Zähnen. »Was ist in der Schule? Mobben sie dich? Schlagen sie dich? Ich schwöre, ich-«

»Nein«, unterbricht Caleb ihn. »Nein, tun sie nicht. Was ist jetzt mit meinem Eis?«

»Klar. Eis klingt super«, rufe ich dazwischen, bevor Alec wieder wütend werden kann. Ich sehe von Alec zu Caleb und schließlich wieder zu Alec. »Ich gebe für alle aus.«

»Du wirst nicht ausgeben«, meint Alec und schüttelt den Kopf. Die Wut ist plötzlich wie weggeblasen und für einen Moment wirkt er fast schon verzweifelt, doch dann löst er seinen Blick von Caleb und sieht mich an.

»Doch das werde ich«, antworte ich grinsend.

Es zuckt um Alecs Mundwinkel. Sein Blick ist herausfordernd. »Nein wirst du nicht.« Ich komme nicht mehr dazu zu antworten. Noch bevor ich den Mund öffnen und etwas erwidern kann, liegt sein Mund schon auf meinem und erstickt alle Worte, die mir auf der Zunge liegen, in Keim.

Caleb tut neben uns so, als müsste er würgen. »Sucht euch ein Zimmer«, ruft er uns zu und geht dann vor, in Richtung Eisdiele. Ich schaue Alec verdutzt an, aber der schaut seinem kleinen Bruder hinterher und lacht nur.

Nachdem wir aus der Stadt kommen, kochen wir. Naja, Caleb und ich kochen, während Alec am Tisch sitzt und seine Notizen durchgeht. Er lernt viel, aber für ihn scheint viel immer noch nicht gut genug zu sein. Wenn er sich nicht um Caleb kümmert oder die Zeit mit mir verbringt, sehe ich ihn andauernd über seinen Büchern sitzen und büffeln. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt genug Schlaf bekommt. Mir fallen die Schlaftabletten ein, die ich einmal in Alecs Zimmer gefunden habe. Was es wohl damit auf sich hat? Bis jetzt habe ich noch nicht die Zeit und den Mut gefunden, ihn zu fragen, denn irgendwie fürchte ich mich auch davor.

Es fühlt sich gut an, das Wochenende mit den beiden zu verbringen. Fast schon wie eine richtige Familie. Alec und Calebs Eltern sind wieder nicht da, also bin ich alleine mit den Jungs.

Ich erzähle meiner Mutter, dass ich das Wochenende über bei Loreen übernachte und Loreen bitte ich, für den Fall, dass meine Mutter bei ihr anrufen sollte, für mich zu lügen. Sie weiß über Alec und mich Bescheid. Vielleicht steht die nicht vollends hinter meiner Entscheidung, ihm zu verzeihen, aber sie akzeptiert es und dafür liebe ich sie.

Loreen sieht Alec nicht so, wie ich ihn sehe. Sie kennt nicht die Seite, die manchmal aufblitzt, wenn er glaubt, dass niemand hinsieht. Die Seite an ihm, die den größten Teil in ihm ausmacht. Etwas, das mir erst später bewusst geworden ist. In dem Moment, als er mir gesagt hat, dass er mich liebt. Ich habe den Schmerz in seinen Augen gesehen, aber nicht nur Schmerz, sondern auch Liebe - und dann habe ich es begriffen. Alec ist wie eine Mauer, ein Felsen. Er versucht die Menschen, die er liebt zu beschützen. Er ist stark und robust. Jeder Tsunami und Wirbelsturm prallt an ihm ab, bis zu dem Zeitpunkt an dem die Mauer Risse aufweist; Risse, die ihn von innen heraus auffressen; Risse, die er niemanden sehen lässt; Risse, die man erst sieht, wenn es zu spät ist, denn selbst die stärkste Mauer bricht eines Tages zusammen.

Ich zeige Caleb wie man Gemüse klein schneidet, ohne sich den Finger abzuhacken, aber er ist so unachtsam, dass er sich am Ende doch in den Finger schneidet und herum jammert, obwohl der Schnitt nicht einmal tief ist. Seufzend renne ich nach oben, suche Verbandszeug und gebe Caleb ein Pflaster, dabei vergesse ich leider das Gemüse, das auf dem Herd anbrennt.

Als ich unten ankomme, geht der Feueralarm los. Alec reißt alle Fenster und Türen auf, nimmt den Topf vom Herd und versucht den Alarm auszuschalten, bevor noch die Nachbarn auftauchen. Nachdem er das verbrannte Gemüse in die Biotonne kippt, seufzt er. »Vielleicht sollten wir lieber Essen bestellen.«

»Gute Idee«, sage ich und suche die Nummer des Lieferservice raus. Wir bestellen uns etwas vom Chinesen. Keiner verliert ein Wort über den Vorfall in der Küche.

-

Am Sonntag sitze ich den ganzen Vormittag über mit Alec an einem Tisch. Caleb sitzt oben in seinem Zimmer und spielt irgendein Spiel. Alec lernt wie immer und ich wiederhole den Stoff der elften Klasse.

In Englisch und Deutsch habe ich keine Probleme und auch mein mündliches Fach – Pädagogik – macht mir keine Sorgen, nur vor Biologie habe ich ein wenig Angst. Natürlich könnte ich auch einfach Alec fragen, der Großteil seines Studiums dreht sich vermutlich um Biologie, aber er sieht so gestresst aus, dass ich ihm nicht auch noch eine Bürde sein möchte. Er scheint sowieso viel zu wenig zu schlafen.

Die Ringe unter seinen Augen werden immer dunkler und tiefer und manchmal habe ich das Gefühl, dass er immer dünner wird.

Er kaut auf seiner Unterlippe herum, reibt sich über das Kinn und lernt weiter. Meine heimlichen, besorgten Blicke scheinen ihm nicht aufzufallen. Er ist so vertieft in seine Bücher, dass er alles um sich herum zu vergessen scheint.

»Alec«, sage ich leise, aber er reagiert nicht, hört mich überhaupt nicht, also hebe ich meine Stimme an und versuche es noch einmal. »Alec, ich mache mir Sorgen.«

Er schaut auf, sein Blick ist sanft. So sanft, dass mein Herz einen Sprung macht. Einzelne dunkle Strähnen fallen ihm ins Gesicht, lassen ihn jünger wirken. »Sorgen worüber? Brauchst du Hilfe? Ich kann-«

»Nein, nein«, beeile ich mich zu sagen und lege meine Hand auf seine. Ich weiß, dass es ihn beruhigt, wenn ich über seinen Handrücken streiche, also tue ich genau das. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du brauchst Schlaf, Alec. Du siehst aus, als könntest du jeden Moment zusammenbrechen.«

Für einen Augenblick sehe ich, dass es um seine Mundwinkel zuckt, als wäre ihm der Gedanke, dass ich mich um ihn sorgen könnte, nicht gekommen, als würde ihm dieser Gedanke gefallen, ihm schmeicheln, aber dann presst er die Lippen aufeinander und reibt sich über den Nacken. Er sieht mich an und lächelt. In seinem Blick liegt so viel Liebe, dass ich glaube, darin ertrinken zu können. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Beccs. Solange du bei mir bist, kann es mir nur gut gehen.«

Ich weiß nicht, was es ist, ob es an dem traurigen Blick in seinen Augen liegt oder an seiner Stimme, aber diese Worte aus seinem Mund zu hören, tut so weh. Als wüsste mein Unterbewusstsein etwas, dass ich noch nicht gesehen habe; als wäre etwas zwischen uns, dass ich übersehe.

Am Nachmittag klingelt das Haustelefon. Caleb hat sich inzwischen zu uns gesetzt und erledigt seine Hausaufgaben für morgen. Alec meldet sich ziemlich mürrisch am Telefon. Irgendwie muss ich in diesem Augenblick an unser erstes Telefonat denken. Damals habe ich die Moranis angerufen, ohne zu wissen, dass er ein Teil dieser Familie ist. Daran zurückzudenken, fühlt sich seltsam an, als wäre es eine Erinnerung aus einem alten Leben. Es fühlt sich an, als wäre das schon Jahre her und nicht erst ein paar Monate.

Ich lache leise, als Alec plötzlich den Hörer zur Seite legt und Caleb ansieht. »Für dich«, sagt er und hebt die Brauen. »Anna

Verwundert schaue ich zu Caleb, der augenblicklich rot wird. Er schnappt sich das Telefon und ist draußen, bevor einer von uns etwas sagen kann. Ich schaue Alec überrascht an. »Hat er neuerdings eine Freundin?«

»Das wüsste ich auch gerne«, meint Alec und starrt immer noch die Tür an, hinter der sein Bruder verschwunden ist, doch dann grinst er. »Wurde aber auch mal langsam Zeit.«

»Was meinst du?«, frage ich. Biologie ist schnell vergessen. Ich schiebe meinen Hefter zur Seite und sehe Alec neugierig an. Dass Caleb eine Freundin hat, ist definitiv interessanter als der Vergleich der Evolutionstheorien von Darwin und Lamarck. Naja, wenn ich ehrlich bin, ist alles interessanter als Biologie.

Alec fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Er wirkt immer noch müde, aber er sieht gesünder aus als heute Morgen. Wenn ich könnte, würde ich ihn packen und ihn zwingen, schlafen zu gehen. Ihn so zu sehen, tut mir ja schon weh. Ich weiß, dass ein Studium viel Zeit und Mühe in Anspruch nimmt, und erst recht ein so lernintensives wie Medizin, aber das was er macht, kann einfach nicht gesund sein.

»Das erste Mal verliebt sein, die erste Freundin und das erste gebrochene Herz.«

»Da spricht wohl jemand aus Erfahrung«, sage ich vorsichtig und lege meinen Stift zur Seite. Vielleicht sollte ich das nicht tun, aber ich kann mir meine nächste Frage nicht verkneifen. »Hat sie dir auch das Herz gebrochen? Deine erste Freundin, meine ich. Du hast sie mal erwähnt, aber...du redest nie über sie.«

Alec sieht mich an und überraschenderweise lächelt er, wenn auch nur schwach. »Nein Rebecca, sie hat mir nicht das Herz gebrochen.«

Das ist genug, Becca, rede ich mir ein. Niemand redet gerne über seine Ex-Beziehungen. Warum auch? Die Vergangenheit ist vergangen, man sollte nach vorne schauen, aber ich kann mich nicht zurückhalten. Dass Alec mir eine ehrliche Antwort gegeben hat, animiert mich dazu, weiter nachzuhaken. Ich halte kurz die Luft an und frage dann:»Hast du sie geliebt?«

Er legt den Kopf schief und scheint nachzudenken. Ich kann nicht glauben, dass er nicht aufspringt und mich anbrüllt, mir sagt, dass mich das alles nichts angeht, denn um ehrlich zu sein, habe ich mit genau so einer Reaktion gerechnet. Als er nach den richtigen Worten sucht, sieht er mich nicht an. »Zu dem Zeitpunkt habe ich geglaubt, dass ich sie liebe. Vielleicht habe ich sie wirklich geliebt, so wie ein pubertierender Junge nun mal jemand anderen lieben kann, aber sie war-«

Die Tür geht auf und Caleb kommt herein, mit gesenktem Kopf und hochrotem Gesicht. Ich weiß, dass das falsch ist, aber in diesem Moment verfluche ich Caleb für sein schreckliches Talent, immer in den unpassendsten Momenten hereinzuplatzen. Am liebsten würde ich Alec am Kragen packen und schreien: Was war sie?, aber ich halte mich zurück.

»Anna also?« Alec grinst Caleb an, aber der funkelt seinen älteren Bruder nur an. Er ist nicht wütend, aber ich kann sehen, dass er rot wird. »Sie hat nur etwas wegen den Hausaufgaben gefragt.« Calebs Blick geht von Alec zu mir. »Becca?«

»Ja?« Ich sehe ihn an.

»Hast du Lust mit mir mein Videospiel zu spielen?«

»Ohhh...na klar«, murmele ich, obwohl ich überhaupt keine Lust habe. Ich bin grundsätzlich gegen alles, in dem ich sowieso keine Chance habe zu gewinnen, aber Caleb zu liebe spiele ich mit und ich gebe mir sogar verdammt viel Mühe...nur sterbe ich leider immer schon in den ersten paar Sekunden, weil ich von einem Felsen stürze oder erschlagen werde. Manche Menschen sind einfach nicht für Videospiele gemacht.

Irgendwann, zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Tod, lege ich meinen Controller zur Seite und werfe Caleb einen Blick zu. »Und diese Anna hat wirklich nur wegen den Hausaufgaben angerufen?«

Caleb rollt genervt mit den Augen. »Ja, Becca. Nur Hausaufgaben. Soll ich es dir buchstabieren?«

Ich seufze. Dieses Verhör hat ein schnelleres Ende gefunden, als ich gehofft habe.

Am Abend liege ich mit Alec im Bett. Morgen ist Montag und wenn meine Mutter wüsste, dass ich bei Alec übernachte, würde sie mich umbringen. Sie ist sowieso grundsätzlich dagegen, dass ich auswärts übernachte, wenn ich am nächsten Tag Schule habe, aber sie ist momentan so sehr mit der Arbeit beschäftigt, dass sie nicht die Zeit hat, mir Dinge zu verbieten.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie und mein Vater mir etwas verheimlichen, dass sie mir aus dem Weg gehen, aber ich weiß nicht, woran es liegen könnte. Die beiden sind kaum noch zu Hause, mein Vater noch weniger als meine Mutter, und wenn sie denn mal da sind, reden sie kaum noch miteinander. Aber mit mir scheint keiner von den beiden reden zu wollen, jedenfalls nicht über die ernsten Themen, die sie zu beschäftigen scheinen.

Alec und ich schauen uns einen Film an. Caleb schläft schon in seinem Zimmer. Ich habe vermutlich den ganzen Nachmittag mit ihm sein seltsames Videospiel gespielt und ich bin noch nie so oft hintereinander gestorben. Diese Niederlage ist verdammt traurig.

Alec hat einen Horrorfilm eingelegt, nicht weil er es wollte, sondern weil mir danach war. Er war bei der Auswahl meines Filmes überrascht, aber das ist nicht schlimm. Es gibt noch so viel, dass wir voneinander nicht wissen. Die Tatsache, dass ich Horrorfilme liebe, ist da noch eine der unwichtigen Dinge.

Während des Filmes liege ich in seinen Armen, auf seinem Bett. Seine Hand liegt auf meiner Hüfte, zieht sanfte Kreise über meinen Körper. Die Berührung ist unschuldig und hauchzart, aber sie bringt mein kleines Mädchenherz dennoch zum Schlagen. Alles andere scheint unwichtig zu sein, in den Hintergrund zu rücken, nur er zählt. Seine Hand, seine Wärme und seine Liebe.

Irgendwann schlafe ich ein. Mit Alecs Arm um mich und seinem strahlenden Gesicht vor meinen Augen drifte ich ins Land der Träume, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es noch so viel gibt, dass ich über ihn nicht weiß. Dinge, die er nicht bereit ist, mir zu erzählen. Noch nicht, vielleicht aber auch niemals. Und ich weiß nicht, ob unsere Beziehung diese Geheimnisse überleben oder daran zerbrechen wird.

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