14 | Ehrlichkeit und Erwartungsdruck

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| Emma |

Als ich am nächsten Vormittag in der U-Bahn saß und wieder zu Harrys Hotel fuhr, beobachtete ich meine Mitfahrer nur durch sehr müde Augen. Doch an diesem Tag dachte ich weniger darüber nach, welche Geschichten hinter ihren Gesichtern stecken könnte, sondern mehr, was sie in mir sehen könnten. Und schließlich drehten sich meine Gedanken nur noch darum, was ich überhaupt in mir sah.

Harry hatte recht, als er mir gestern an den Kopf geworfen hatte, ich müsse aufhören, ständig alles auf meine Person zu beziehen. Meine Herkunft konnte nicht der Mittelpunkt meiner Welt sein, wo ich sie doch so unbedingt hinter mir lassen wollte. Doch allein durch den ständigen Versuch, sie zu verdrängen, holte ich sie höchstpersönlich immer wieder in die Gegenwart zurück. Um das zu erkennen, war tatsächlich diese gestrige kurze, aber wirkungsvolle Ansage von Harry nötig.

Das Hotel, in dem Harry residierte, verfügte nicht nur über eine herrliche Lounge im obersten Stockwerk, sondern auch über diverse Konferenzräume. Zu einem solchen führte mich eine der Angestellte und brachte mich in einen Raum, in dem Harry und ein mir bislang unbekannter Mann, der etwas älter als Harry sein musste, gemeinsam über einem Laptop gebeugt saßen.

Der Dunkelhaarige mit Dreitage-Bart musste der zugehörige Körper zu der Stimme sein, die ich bisher schon einige Male am Telefon gehört hatte - Jeffrey Azoff.  Ich hatte seinen Namen bereits das ein oder andere Mal in die Google-Suchleiste getippt, um mir ein Bild zu machen, doch so ganz erschloss sich mir dieser Mensch erst jetzt, als ich ihn leibhaftig vor mir sah.

„Mister Azoff, Mister Styles? Miss Reynolds ist hier", kündigte mich die Dame, von der ich immer noch nicht wusste, ob sie für das Hotel oder doch für Harrys Management arbeitete, an und machte noch im selben Moment wieder auf ihren hohen Hacken kehrt.

Aufmerksam sahen sich die beiden Männer erst jetzt um und waren innerhalb weniger Augenblicke auf den Beinen.

Ich konnte Harry wieder einmal nicht einschätzen. Ich wusste nicht, ob er nachtragend war und mir mein gestriges Verhalten nach der Show noch übelnahm, oder ob er seine Laune wieder angepasst hatte und mir charmant und freundlich wie immer begegnen würde.

„Emma, hi!", begrüßte mich Harry sofort lächelnd und eilte auf mich zu.
Innerlich atmete ich erleichtert auf. Er schien wieder ganz der Alte zu sein und mir ein gutes, angenehmes Gefühl geben zu wollen. Sanft legte er seine Hand an meinen Rücken und schob mich einen Schritt weiter auf den Dritten im Bunde zu. Mit der anderen Hand machte er eine präsentierende Geste auf seinen Manager. „Darf ich vorstellen – Jeff. Endlich mal in persona."

Freundlich lächelte mich auch er an und streckte mir zuvorkommend die Hand entgegen.

Jeff war ein Stück kleiner als Harry, hatte aber ein ähnlich sympathisches Lächeln, mit dem er mir begegnete. Er wirkte bei Weitem weniger hochgeschlossen und kleinkariert, als er am Telefon immer geklungen hatte.
„Freut mich, dass wir einander endlich mal begegnen, Emma", sagte er, als er anerkennend meine Hand umschloss. „Gehört haben wir ohnehin schon viel voneinander. Ich vermutlich etwas mehr von dir, als du von mir", schob er dann noch lachend hinterher und warf einen kurzen Seitenblick auf Harry.

„Freut mich ebenso", erwiderte ich und hatte unwillkürlich das Lächeln im Gesicht stehen, mit dem ich sonst die Gäste im Maélys begrüßte.

„Wie lief denn der gestrige Einstand?", fragte Jeff direkt heraus. „Hast du dein erstes Konzert gut überstanden?"

„Sehr", nickte ich möglichst selbstbewusst. „Viel Neues erlebt, aber es war auch unheimlich spannend. Ich wurde sehr lieb aufgenommen."

Big Tip || h.s. ✓Where stories live. Discover now