16 | Mütter und Familie

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| Harry |

Emma übertraf all meine Erwartungen.
Ab dem Moment, in dem sie sich dafür entschieden hatte, ihrer Leidenschaft nachzugehen, war sie das pure Licht und Sonnenschein. Es war ihr offenbar wie die Schuppen von den Augen gefallen und zum ersten Mal erlaubte sie sich das zu sein, was sie immer sein wollte - kreativ und frei, ganz egal was sie sich noch vor fünf Jahren vorgenommen hatte. Und genau das strahlte sie uns allen gegenüber auch aus.

Ziele müssen nicht immer erreicht werden, sie können sich auch verändern. Der Mensch selbst verändert sich und damit auch all das, was man glaubt, tun oder sein zu müssen. Diese Erkenntnis hatte wohl auch Emma endlich gewonnen und es freute mich unheimlich, ihr dabei zuzusehen.

Sie hatte all meine verbleibenden Shows mit einer Freude begleitet, dass es unmöglich war, nicht davon angesteckt zu werden. Von der unsicheren, dafür sehr direkten und oft auch verletzenden Emma war nichts mehr zu sehen.
Sie befand sich offensichtlich in einer enormen Hochphase ihres Lebens, doch es konnte nicht immer so laufen. Es braucht Rückschläge und alte Geister, um weiter zu wachsen.
Solche schienen auch Emma eingeholt zu haben, als wir in London waren.

Anstelle ihres Strahlens saß sie mit verbitterter Miene im Backstagebereich der heutigen Location und warf ihr Handy wutgeladen neben sich.

Ich selbst hatte es gerade geschafft, meine Mutter Anne und meine Schwester Gemma zurück in den Publikumsbereich zu schieben, damit sie dort den Abend mit Freunden der Familie genießen konnten. Es war niedlich, wie stolz sie nach all den Jahren immer noch waren und wie sehr sie mich umsorgen wollten, doch dabei vergaß insbesondere meine Mutter oft, das Konzert auch als solches wahrzunehmen.
Sie war so sehr auf mich fokussiert, dass ich sie manchmal zwingen musste, auch das zu sehen, was ich tat und es zu genießen. Denn genau dafür machte ich Musik.

Während ich also wieder alleine war und darauf wartete, das Go des Technikers zu bekommen, hatte ich genug Zeit, Emma zu beobachten. Sie hatte merklich weniger Fotos geschossen als die letzten Male, was daran liegen mochte, dass sie nicht ständig mich und meine Familie belagern wollte. Dafür hatte sie allerdings ihr Handy bedeutend öfter in der Hand.

„Alles in Ordnung?", fragte ich und ließ mich zu ihr auf das Sofa im Aufenthaltsraum fallen.
Auch zwischen uns hatte sich eine herrlich angenehme und vorallem ehrliche Entspanntheit entwickelt. Seitdem wir einander so viel voneinander gezeigt hatten und unsere jeweiligen Herausforderungen und Meinungen kundgetan hatten, waren die Mauern, die uns trennten, niedriger geworden.

Sie waren nicht gänzlich eingerissen und lagen auch nicht in Schutt und Asche, aber wir konnten einander erkennen und gaben uns Mühe, den Standpunkt des jeweils anderen nachzuvollziehen.

„Ja, schon", brummte Emma wenig überzeugend, ließ ihren Kopf nach hinten auf die Lehne sinken und sah mich müde an. „Aber ich hab die Einwegkamera zuhause vergessen."

Den Großteil der 27 Bilder dieser Kamera hatten wir bereits gemeinsam, während der vergangenen Konzerte, verschossen. In Vancouver hatte Emma festgehalten, wie ich mir mit Ahornsirup kurz vor der Show das Bühnenoutfit ruiniert hatte und unheimlich lachen musste, während die Stylisten-Crew um Cheryl beinahe die Krise bekommen hätte. In Mexiko hingegen hatte es technische Probleme gegeben und wir hatten die Zeit genutzt, um uns selbst an Cheryls Makeup und Haar-Utensilien zu probieren. Jeder der vielversprechenden Looks war auf dem Film der Kamera festgehalten worden.
Letztendlich war Emma sogar im Scherz die Idee gekommen, diese Kamera gewinnbringend zu versteigern und hatte noch gelacht, dass sie dafür wohl mehr Geld bekommen würde, als sie in diesem Job je verdienen würde.
Ich hatte mitgelacht und hätte ihr wirklich jeden Cent davon gegönnt.

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