03 | zu viel Trinkgeld

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| Emma |

Wir waren bereits im Jahr 2020 angelangt, als ich an diesem Abend mit George als Letztes im Maélys verweilte. Der Rest der Belegschaft und die Gäste waren längst ihrer Wege gegangen.

Ich nicht, denn zum Einen wollte ich dem Getümmel, das seit Mitternacht auf New Yorks Straßen ausgebrochen war, entgehen, zum Anderen hatte ich das Gefühl, für das Extra-Trinkgeld, das mir heute zuteil geworden war, mehr arbeiten zu müssen.

Geld muss man sich verdienen. Dieser Glaubenssatz war tiefer in mir verankert, als mir lieb war.

„Geh' doch nach Hause, Emma", bat mich George schon zum zweiten Mal, während er noch Klarschiff machte. „Du bist bestimmt müde."

Die Schicht war anstrengend, doch müde war ich nicht. Mein überraschender Geldsegen hielt mich ungewollt wach. Es war das schreckliche Gefühl, jemandem zu Dank verpflichtet zu sein, das mir zu schaffen machte.

„Alles gut", schüttelte ich stur den Kopf. „Ich helf' dir hier nur noch eben."

„Nein, du gehst jetzt heim", blieb George genauso entschlossen wie ich. „Du hast längst Feierabend, dein kleines Vermögen ist abgerechnet, es ist Silvester und du hast morgen frei. Genieß das einfach mal, Emma."

Eindringlich sah er mich an, während er mir demonstrativ die Türe nach hinten, zum Personalraum aufhiel. Er ließ keine Widerrede zu.
„Und ein frohes neues Jahr."

Seufzend sah ich ein, dass ich nicht gegen ihn ankommen konnte und meine Beine tatsächlich nach einer Pause verlangten.
„Na schön", murmelte ich George widerwillig zu, als ich mich an ihm vorbeischob. „Wünsch ich dir auch."

Man sollte meinen, meine Laune wäre nach dem heutigen Abend auf dem Höhepunkt gewesen, doch die 2.020$ Trinkgeld beschäftigten mich auf ganz andere Weise.

Vielleicht war es falscher Stolz, doch schlechtes Gewissen machte sich in mir breit.
In meiner Welt war das eine hohe Summe, die mich in meiner Planung unerwartet ein paar Schritte überspringen lassen und mich weiter nach vorne bringen konnte. Für Harry Styles war es vermutlich Kleingeld, das er bereits wieder vergessen hatte.

Schnell zog ich mich um und schlüpfte wieder in meine gemütlichen, warmen Alltagsklamotten, um nach Hause zu fahren. An Silvester in New York unterwegs zu sein, war die reinste Katastrophe, doch irgendwie musste ich nach Hause kommen.

Bereit mich dem Spießrutenlauf zu stellen, trat ich durch den Personalausgang nach Draußen. Seufzend vergrub ich mich noch tiefer in meinem dicken Schal, als mir die eisige Nachtluft entgegenschlug.

Es war wohl nicht gerade das sicherste Unterfangen, mitten in der Nacht alleine durch New York zu laufen, doch solange Eric nicht mit mir arbeitete, lief ich jedes Mal alleine durch die Stadt. Über meine Sicherheit konnte ich mir nicht auch noch ständig Sorgen machen. Ich war gefährliche Gegenden und zwielichtige Gestalten gewöhnt. Ich war damit großgeworden.

Als ich in dem dunklen Hinterhof, in den der Personalausgang des Maélys führte, plötzlich ein dunkles Räuspern hörte, zuckte ich trotzdem erschrocken zusammen und spürte mein Herz einen Schlag aussetzen.

Prüfend sah ich mich um, als mir wieder bewusst wurde, dass ich nicht mehr in der Bronx lebte.
Das Maélys teilte sich den kleinen Hinterhof mit keinem Geringerem als dem Clubhaus, in dem man sich regelmäßig zu großen Erfolgen gratulierte. Und dort, neben der Fassade des Hauses, stand auch niemand anderes als Harry Styles.

Wie angewurzelt blieb ich stehen.
Es war die Gelegenheit, mich für die 2.020$ zu bedanken. Allerdings war ich mir sicher, dass er abseits des Restaurants nicht von mir angesprochen werden wollte und ich ihn damit als potentiellen Stammgast vergraulen könnte.

Big Tip || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt