Tag 9: Besuch, Tränen, Häutungen...

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Sechs ereignislose Tage vergingen. Dany war froh, dass seine Eltern nicht zu Besuch gekommen waren, aber auch überrascht weil sie zum ersten Mal in seinem Leben seine Entscheidung zu respektieren schienen.
Umso verbitterter war er, als es während dem Mittagessen, dass er noch immer in seinem Zimmer einnehmen musste, an der Türe klopfte und seine Eltern eintraten.
Am liebsten hätte er sie angefaucht und einen Katzenbuckel gemacht aber dann hätten sie ihn wahrscheinlich direkt in die nächste Heilanstalt eingewiesen.
Also versuchte er sie so gut es ging zu ignorieren und antwortete weder auf ihre Fragen noch sah er sie an. Dennoch konnte er nichts weiter tun als lustlos, wie immer, in seinem Essen herumzustochern.

Er hatte in den letzten Tagen öfter das Cafè besucht. Natürlich gemeinsam mit Riley, der sich wie ein kleines Kind gefreut hatte, als Dany ihm nachher noch stolz einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier gegeben hatte, das er beides von Ben zugesteckt bekommen hatte.

Der neunzehnjährige hatte ihm erzählt, dass man ihm seine Zeichenutensilien entwendet hatte. Warum hatte der junge Mann ihm nicht gesagt, aber das hatte keine Rolle gespielt. Der sechzehnjährige hatte sich mindestens genauso darüber gefreut, Riley eine Freude gemacht zu haben, wie sich der schwarzhaarige über einen einfachen Kulli und Papier gefreut hatte.
Natürlich hatte sich der junge Mann gleich daran gemacht nebenbei zu zeichnen. Sie hatten gemeinsam am Fenster gesessen und die Stadt beobachtet. Wie die Lichter angingen, wenn die Sonne komplett versunken war, wie alles ruhiger wurde mit der Nacht...
Dany hatte sich instinktiv an die Schulter des schwarzhaarigen gelehnt. Riley hatte es zur Überraschung des sechzehnjährigen gar nicht gestört. Der Junge war sich nun sogar fast sicher, dass er Riley mehr als nur gern hatte....

,,Haben wir dir irgendetwas getan, dass du glaubst uns wie Luft behandeln zu müssen, Dany?", sein Dad holte sich einen der beiden Stühle und setzte sich damit neben das Bett, während Mrs. Prentiss sich auf den Bettrand setzte.
Genervt verdrehte Dany seine Augen und legte die Gabel nieder. Er wollte ihnen schon vorwerfen, dass sie ihm den Appetit verdarben, aber dann hätten sie wohl alle drei gelacht.
,,Fangen wir mit der Klinik an!", zischte der sechzehnjährige und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
Sie hatten ihm am Morgen den Schlauch der Magensonde getauscht, weshalb nun alles wieder weh tat. Der Kopf, der Hals. Man hatte ihm eine Suppe als Mittagessen gebracht. Mehr nicht. Einerseits freute er sich darüber, aber andererseits, wenn er sich wieder in den Kopf rief, dass er bei der letzten Untersuchung schon anderthalb Pfund zugenommen hatte, wollte er die Suppe nicht einmal ansehen.
,,Dany, du wirst uns dafür noch danken. Weißt du eigentlich wie schlimm du aussiehst? Ich erkenne dich fast nicht wieder! Wir erkennen dich fast nicht wieder. Du wärst gar nicht hier, wenn du einfach essen würdest. Du könntest jetzt zu Hause sein oder dich mit Peta und Thorn treffen. Alles wenn du nur essen würdest! Dann hätte man dir diese Magensonde auch nicht legen müssen. Als Nate nach Hause gekommen ist, war er völlig fertig und als er uns gesagt hat, dass du uns nicht sehen möchtest, haben wir das auch respektiert.", Mr. Prentiss lehnte sich in den Stuhl und verschränkte seine Arme vor der Brust. Sie mussten beide gerade Mittagspause haben, denn sein Dad trug den schwarzen Anzug und seine Mum die weiße Bluse und den schwarzen Blazer den sie immer in der Boutique trug.
,,Und trotzdem seid ihr jetzt hier."
Bevor Dany es richtig realisieren konnte, war sein Dad aufgesprungen und hatte ihm eine Ohrfeige gegeben.
Wenigstens hatte er Glück, dass Mr. Prentiss Linkshänder war und ihm nicht auf der Seite ins Gesicht geschlagen, wo der Schlauch der Sonde angeklebt war. Das wäre wahrscheinlich noch schmerzhafter gewesen.
Der Junge merkte wie Tränen sich in seinen Augen ansammelten und legte sich instinktiv die Hand auf die Wange.
,,Wir bezahlen hier verdammt viel Geld dafür, dass sie dich hier dazu bringen zu essen. Du solltest ein bisschen mehr Dankbarkeit zeigen, Dany. Wir tun das alles nur für dich, weil wir dich lieben und du willst nicht einmal, dass wir dich besuchen.", Mr. Prentiss griff in seine Jackentasche und holte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug heraus, bevor er wortlos aus dem Zimmer ging und sie beide alleine ließ.
,,Ich habe hier frische Kleidung für dich. Und zwei Bücher auch. So wie ich dich kenne hast du jene, die du mitgenommen hast sicher schon zwei Mal gelesen.", sie stand auf und legte eine Reisetasche auf den Tisch.
,,Hab ich nicht. Die haben sie mir genommen.", antwortete er leise und vermied es sie anzusehen. Mrs. Prentiss antwortete ihm nicht sondern nahm die alte Reisetasche, in der Dany seine getragene Kleidung verstaut hatte, und setzte sich dann auf den nun freien Stuhl.

,,Dany, bitte versteh unsere Sichtweise doch auch. Wir wollen alle nur das Beste für dich. Wir haben eben keine andere Lösung mehr gefunden außer diese Klinik. Sieh dich doch mal an. Was würdest du denn an unserer Stelle tun, wenn dein Kind, nicht mehr isst, permanent abnimmt, unzählige Male zusammenbricht und aussieht, als wäre es schwer krank. Hast du dich mal im Spiegel angesehen? Du siehst aus, als wärst du schwer krank. Du bist so blass und mager...du siehst so....zerbrochen aus. Wie ein kleiner Vogel, der den Willen zum Fliegen verloren hat.", sie weinte.
Dany sah seine Mum zum ersten Mal wie sie weinte. Es schien ihr egal zu sein, dass ihre Tränen die Maskara verschmierte und das Make-Up ruinierte.
Sie hatte ihn immer kleiner Vogel genannt, weil er so besessen von Schwalben gewesen war.
Er wusste genau wie er aussah. Alles andere als gesund.
,,Glaubst du an mir und deinem Dad, geht das alles spurlos vorbei? Dein Zimmer ist leer. Ich laufe immer nach oben um dich zum Essen zu rufen, aber dann fällt mir ein, dass du ja gar nicht da bist und wir beide alleine essen müssen. Auch wenn du nicht gegessen hast, du bist trotzdem da gewesen. Glaubst du wirklich, ich und dein Dad geben dir die Schuld an allem?", sie wühlte in ihrer Tasche, bis sie eine Packung Taschentücher fand.
,,Bei Dad hat das so geklungen."
,,Du bist sauer, wegen der Magensonde, hab ich recht? Wir haben ohne deine Erlaubnis, den Ärzten das OK gegeben, dir eine Magensonde zu legen, nachdem sie uns angerufen haben und und darüber informiert hatten, dass du bereits in zwei Tagen, ein zweites Mal zusammengebrochen bist und dich trotzdem noch weigerst zu essen. Wir wussten, wie viel Angst du vor der Sonde hattest und haben das OK auch nur sehr schwer gegeben. Und es tut mir leid. Aber es ging nicht anders, Dany.", sie putzte sich die Nase und warf das Taschentuch dann in den Mülleimer.

,,Dany, ob du es mir jetzt glaubst oder nicht, ich hab dich lieb. Und dein Dad auch. Und Nate sowieso. Wir tun das, weil wir dich lieb haben. Auch wenn du das jetzt wahrscheinlich anders siehst.", sie beruhigte sich und wischte sich mit einem frischen Taschentuch das Make Up aus dem Gesicht.
Dany wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Auch, befürchtete er, sollte er nun seinen Mund aufmachen, würde nur ein Schluchzen herauskommen. Keine verständlichen Worte.
,,Falls es dich interessiert, Opal hat sich gestern gehäutet. Ich habe seine Haut mitgenommen, falls du etwas von ihm bei dir haben möchtest.", seine Mum reichte ihm in einen durchsichtigen Beutel, in dem sie die Schlangenhaut aufbewahrt hatte.
,,D...anke."
,,Wir müssen jetzt wieder gehen. Die halbe Stunde ist um.", Mr. Prentiss kam durch die Türe und legte seiner Frau eine Hand auf die Schulter.
Sie nickte stumm und stand auf.
,,Bevor ich es vergesse. Peta und Thorn haben nach dir gefragt. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen dich anrufen.", teilte Mr. Prentiss ihm mit, während der Man die Tasche des Jungen nahm.
Dany nickte stumm und sah von dem Beutel in seiner Hand nicht auf.
,,Wir telefonieren. Wenn du etwas brauchst, ruf bitte an. Ich hab dich lieb, mein kleiner Vogel.", sie drückte ihm einen Kuss aufs Haar und wartete auf eine Antwort.
Kleiner Vogel.
,,Ich dich auch."


Er sah noch lange zur Türe nachdem sie gegangen waren.
Die Suppe war bereits kalt geworden und Dany hatte sowieso nicht mehr vor gehabt sie zu essen. Nicht nach der ganzen Aufregung. Er wusste wie er aussah. Gerade deshalb hatte er es ja stets gemieden in Spiegel zu sehen.
Er hatte ja fast schon Angst davor gehabt in einen Spiegel zu blicken! Oder auf eine Waage. Er hatte sich vor allem gefürchtet, dass ihm etwas über seinen Körper mitgeteilt hatte.
Selbst wenn es doch noch so wenig gewesen war, war es für ihn immer zu viel gewesen. Der krankhafte Drang, weniger wiegen oder noch schmäler sein zu wollen, hatten ihn so viel gekostet. Der krankhafte Drang danach, weniger zu werden. Je weniger es von ihm gab, umso weniger Probleme machte er...oder das hatte er sich zumindest gedacht. Letztendlich hatte er nur noch mehr Probleme bereitet.
Er hatte sich selbst so weit es ging zerstört. Seinen Körper, seine Psyche, sein Aussehen...einfach alles.
Nur weil irgendein Idiot ihm gesagt hatte, er solle auf seinen Körper achten und er das viel zu ernst genommen hatte.
Was hatte er sich selbst eigentlich angetan?
Er ging weinend zu Bett, weil er solchen Hunger hatte, aber nicht essen konnte. Er saß mit sechzehn Jahren in einem Rollstuhl, weil ihm die Kraft zum gehen fehlte. Man musste ihm eine Magensonde legen, weil er nicht essen wollte.
Weil er zu dumm war, um die Hilfe die man ihm anbot anzunehmen. Weil er zu krank war sich einzugestehen, dass er Hilfe brauchte.

Während manche Menschen gar nichts hatten, weinte er, weil man ihm ein Tablett voll mit Lebensmitteln hinstellte!
Wie viele Lebensmittel waren seinetwegen schon in den Müll gewandert, weil er sie angerührt, aber nicht gegessen hatte?
Wie lange, würde sein Körper das alles noch mitmachen?

Dany stand auf und befestige die Flasche der Sonde, an der Mobilen Halterung, die Ben ihm gebracht hatte, falls er mal kurz ins Bad musste.
Der sechzehnjährige ging in das Badezimmer und zog die Halterung mit sich, die ihm gleichzeitig auch als Stütze diente.
Im Bad stand ein großer Spiegel, in dem man sich von oben bis unten betrachten konnte. Dany hatte ihn am Tag seiner Ankunft umgedreht, um sich selbst nicht sehen zu müssen.
Jetzt drehte er ihn langsam um.
Er erschrak sich beinahe, als er sich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, in einem Spiegel sah.
Er fragte sich, wie man ihn ansehen konnte, ohne vor Ekel den Mund zu verziehen. Wie man es schaffte ihn zu berühren, ohne sich zu grausen.


Er fragte sich, warum er seinen Körper, in dem er sich so wohl gefühlt hatte, nur so zerstören konnte.


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