Bestürzung

174 18 0
                                    

Ohrenbetäubendes Gebrüll!

Die Wandlung des Satyr vollzog sich weiter.

Diese Wandlung aus dem Menschenkörper des Georgi Warjakow in die übermächtig erscheinende Satyr- Gestalt brachte erschütterndes Brüllen und Geifern des Wesens mit sich.

Im Zelt herrschte Panik.

Warjakow- oder besser diese erwachte Bestie- blockierte den einzigen Ausgang des Zeltes.

Boris Russeaux versuchte krampfhaft, die kurz vorher verschlossene Tür zu öffnen. Er rüttelte heftig an den Knöpfen. Hierbei schien er seine letzten Tageskräfte zu mobilisieren, kam aber nur beschwerlich voran.

Andere versuchten, sich schnell anzukleiden. Absehbar war für jeden in diesem Zelt, dass man hier sofort verschwinden musste.

Marica schuf eine Art Schild aus Licht vor sich, um auch die hinter ihr kauernden oder Habseligkeiten zusammenraffenden Menschen zu schützen. Mittlerweile hatten sich auch Wassili, Juri und Julia hinter ihr versteckt, in der Hoffnung, die Sirene könnte sie vielleicht vor den entfesselnden Gewalten des Satyr hinter dem kleinen Lichtschild verstecken.

Natasha, die direkt hinter Marica kauerte, schob ein Eis- Schlageisen zu Marica herüber.

"Hier! Falls es Dir helfen kann! Nimm es! Schlag es diesem Monster in die Brust!"

Kaum hatte sie dies ausgesprochen, fing Natasha an, sich schnell Bekleidung zusammen zu raffen.

Mit einem Mal hörte man ein deutliches Ratschen, als würde man einen Stofffetzen zerreißen. Eiseskälte sowie Schneetreiben kamen ins Zelt.

Die teilweise noch mit Unterhosen aus ihren Schlafsäcken entsprungenen Expeditionsteilnehmer sahen entsetzt auf einen breiten Riss in der hinteren Zeltdecke.

Dort, wohin gerade Wassili und Juri gesprungen waren, klaffte der große Riss nun im Zelt. Man konnte durch den Spalt die Dunkelheit erkennen, die mit einem Schneetreiben vermischt außerhalb herrschte.

Juri Olbekin hatte sich aus Wassili's Rucksack ein Messer gegriffen und einfach die Zeltdecke von innen heraus aufgeschlitzt, um den Leuten hinter Marica eine Chance zur Flucht zu eröffnen. 

Dann raffte auch Juri verschiedenste Sachen und Kleidungsteile zusammen.

Ohne eine Anweisung benötigen zu müssen- nur in Unterhose und der Wattejacke, allerdings barfuß- hatte Viktor Oribatov als Erster die überhastete Flucht in die Eiskalte Nacht angetreten. Sofort fiel ihm jedoch auf, dass er so nicht sehr weit kommen würde.

"Die Stiefel! Gebt mir diese verfluchten Stiefel!", schrie er von draußen in das Zelt zurück.

Doch niemand erhörte dieses Flehen.

Julia, die sich -wohl aus Scham oder weil sie fror- nicht komplett bis zu diesem Moment bereits ausgezogen hatte, war nun in Vorteil. Sie hatte sich ihre eigenen Schneeschuhe gegriffen war hastig hinein geschlüpft. Dann war sie die zweite Person, die dem Dilemma im Zelt hinaus in die Nacht entkam.

Iwan Gregorov hielt sich an dem Deckenriss fest und suchte kurz darauf mit panischem Blick auch die Flucht in die Kälte.

Eine Zeltstange stürzte zusammen. Es wurde alles noch undurchsichtiger. Noch mehr Bestürzung machte sich dadurch breit.

"Die Stiefel!", schrie Viktor Oribatow erneut. Noch immer hoffte er, sein Flehen würde erhört.

Juri ergriff die Stiefel, auf die Viktor in Hektik zeigte und warf sie durch den Schlitz in der Decke einfach aus dem Zelt heraus in die Nacht. Ohne zu zielen- einfach raus damit. Soll sich Viktor die Schuhe suchen.

Die Augen des Satyr wirkten von Blut unterlaufen und die Anstrengungen der Wandlung bildeten sich in der grauenhaften Fratze des Satyr mehr und mehr ab. Noch immer wuchs seine Gestalt an.

Priapos, der Satyr, schien diese Wandlung unter starken Schmerzen vollziehen zu müssen. Seine Arme hielt er wie verkrampft gebeugt- jeder Muskel im seinem Leib war angespannt. Sehnen und Aderläufe waren zu erkennen. Die Wattejacke, welche dem Menschen Georgi Warjakow noch gepasst hatte, war an Armen und Rücken bereits aus den Nähten geborsten. Ständig brüllte er markerschütternd.

Juri wagte einen verstohlenen Blick auf die Kreatur. Sie war jetzt schon- obwohl gebeugt und in sich verkrampft- bereits über Zweieinhalb Meter groß, stark behaart und voll unbändiger Kraft und Energie, welche weiter anwuchs.

Die junge Frau, die Marica hieß, verblieb noch im Zelt und schaute sich verängstigt um. Sie wollte wohl sicher gehen, dass hinter ihr alle entkamen.

Marica tat Juri einfach nur leid. Er hoffte, dass auch diese sympathische Person noch eine Chance hatte, sich diesem Monster irgendwie zu entziehen. 

Mit diesem Blick, einen Rucksack und den Schlafsack in Eile schnappend, verabschiedete auch Juri sich aus dem Zelt.

Wassili und Natasha waren schon aus dem Zelt heraus und halfen ihm. Sie ergriffen seinen Arm, da Juri irgendwo festhing und zu straucheln drohte. Wassili fasste danach schnell den Rucksack und warf ihn sich um die Schulter.

Juri Olbekin ist zwar der Expeditionsleiter, aber um nichts in der Welt musste er- wie ein Kapitän auf See- als Letzter diesen unheiligen Ort verlassen. Jetzt galt es, nur das eigene, nackte Leben zu retten. Es brauchte keinerlei Erklärung, wer hier gut oder böse war- es war irgendwie sofort für Jeden ersichtlich. Der Satyr würde vermutlich keine Gnade kennen- und wenn dieser Kampf der Götter zeitnah entbrennen wird, sollte man so weit wie möglich weg vom Schauplatz sein.

Alle flüchteten irgendwohin in die Nacht. Doch wohin sollte man fliehen? Schreie und Stimmengewirr war außerhalb des Zeltes zu hören- gepaart mit dem Heulen des eisigen Schneesturmes.

"Auspija- Tal!", schrie jemand. Eine Männerstimme. Es könnte sogar die Stimme von Juri gewesen sein. "Zum letzten Biwak- Notlager! Los! Schnell jetzt, bevor wir alle erfrieren."

Sasha Resutkin, der 'Boxer', hatte weniger Zeit und Glück. Er war immer noch barfüßig und mühte sich gemeinsam mit Boris Russeaux an den Knopfleisten der Zelttür. Zumindest waren jetzt drei Knöpfe offen, damit auch diese Beiden als Letzte in Freie durchkriechen konnten. Eine Hand fasste schnell zurück ins Zelt, um noch eine Jacke zu ergreifen.

Dann verblieben nur noch die Sirenen- Nymphe Marica und der Satyr Priapos im Zelt- oder was davon noch über war.

Marica suchte, die Wandlung des Satyr zu werten. Priapos war noch immer nicht vollständig in seiner Gestalt, aber schon jetzt wusste Marica, dass sie hier nicht bleiben durfte- dem Feind und seinen Aggressionen ausgeliefert.

Sein Blick sprach Bände. Diese Nacht würde für Marica nicht gut ausgehen. Diese Nacht war wohl der Anfang vom Ende für sie. Der Satyr würde sie fangen wollen, dann gefangen halten- würde Marica beherrschen wollen- würde sie missbrauchen bis er sein Ziel als erfüllt ansah, dann würde Marica nur noch der Tod einer Geschändeten zustehen- unbeachtet von der Welt- unbeweint von liebenden Seelen.

Intuitiv ergriff Marica mit der rechten Hand das Eis- Schlageisen, welches Natasha ihr zugeschoben hatte. Doch obwohl die Gelegenheit nie wieder so günstig sein würde, wie sie jetzt war, nutzte sich es nicht aus, das der Satyr noch geschwächt und nicht bei voller Kraft war.

Begleitet von einem Wutschrei der Kreatur floh sie in die Nacht hinaus- nicht als Göttin in ihrer Leuchtgestalt, um ihm eine Verfolgung zu erleichtern- in Menschengestalt.

Marica kannte diese Gegend sehr gut. Sie musste den Satyr von den fliehenden Wanderern weglocken, um deren Leben zu schützen.

Dann würde Sie bis zuletzt mit allen Kräften gegen die Bestie kämpfen müssen- irgendwo in dieser eisigen Berglandschaft des Ural- Gebirges.

Marica - Die Letzte der SirenenWhere stories live. Discover now