Die Zeremonie der Segnung

2K 79 2
                                    

Bors ordnete seine Gedanken.

Durch Gebete schaffte er es, die leichten inneren Zweifel von sich zu geben und die Ungewissheiten zu unterdrücken. Wie die zwei Erwählten neben sich, gab auch er mit seiner inneren Stimme die Gebete der Ahnen wieder. Während der stillen Meditation hier am Zugang zum Heiligtum, dem 'Tschum', schien es auch ihm so, dass diesem Ort eine besondere Aura und Kraft umgab. Doch Bors konnte dieses Empfinden nicht so konkret erfassen, um es mit Worten beschreiben zu können. Es schien ihm so, als näherte sich den drei Erwählten etwas, was seinen Gefühlen und Entfindungen nach aus dem Heiligen Tschum des alteingesessenen Ukrah- Volkes kam.

Nahe dem Zugang zum heiligen Ort knackte ein kleiner Ast.

Und noch bevor Bors sich darüber Gedanken machen konnte, ob dies durch ein Tier, den Gott oder durch diesen geheiligten Platz verursacht war, erhielt er seine Antwort- für ihn selbst überraschend und in unerwarteter Art und Weise.

„Willkommen, Ihr heiligen Männer. Seid mir herzlichst willkommen. Ich habe Euch erwartet, denn es ist Zeit, Euer Volk und die Natur zu segnen. Erhebt Euch bitte und helft mir dabei."

Bors traute kaum seinen Ohren. Dies war die Stimme einer jungen Frau. Gebannt von der angenehmen Stimmlage und den durchdringenden Worten, erschien es Bors vor Überraschung unmöglich seine Augen zu öffnen- aus Angst, er selbst könnte in ein helles, göttliches Licht blicken.

Neben Bors rechter Seite raschelte es in Gras und Moos. Die zwei anderen Erwählten erhoben sich. Deutlich hörte Bors Lonoks Schnaupen, als der alte Mann aufstand.

„Herrin. Es tut so gut, Euch wieder zu sehen.", sprach Lonok mit tiefer Ehrfurcht- aber auch wirklicher Freude und Bewunderung.

„Ich danke Euch, Lonok. Ich kann dies ebenfalls so sagen. Es freut mich, dass ihr allesamt bei guter Gesundheit seid und zu mir gefunden habt.", sprach die weibliche Stimme mit ehrlicher Herzlichkeit.

Bors waren die Knie weich vor Aufregung. Dennoch öffnete er nun mutig seine Augen.

Relan begrüßte seinerseits nun die junge Frau- mit vertraulichem Handschlag, wie Bors sehen konnte. So, wie man gute Freunde grüßen würde, welche man sie durch Zufall auf der Jagd trifft oder eingeladene Freunde zu einem Fest.

Das Antlitz der jungen Frau überraschte Bors nicht minder. Die Person, welche Lonok so ehrfürchtig „Herrin" nannte- die Person, welche die Mansen und alle Stämme der Ukrah als Gottheit um Trost, Schutz und Glück anbeteten- diese Person war eine junge Frau! Bors schätzte ihr Alter auf zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre. Sie war kaum älter, als er selbst an Lebensjahren zählte.

Die junge Frau hatte feines langes, schwarzes Haar in leichten Lockenbändern bis über die Schultern herabfallend. Ihr Gesicht war schmal, die Stirn hoch, eine grade, schmale Nase und Augen von dunkler Farbe und unergründlicher Tiefe des Blickes. Was Bors ebenfalls sofort auffiel- die Frau war augenscheinlich keine Mansi, noch sie eine Frau mit asiatischen Wurzeln. Wie eine Europäische- so sah die junge Frau aus, die hier vor den drei Erwählten stand.

Doch wie konnte dies möglich sein? Konnte die Gottheit ihr Aussehen wandeln? Niemals war dies möglich oder real, dass eine Menschenfrau nicht dem Verfall des Alters unterlag?Die Frau sprach nicht nur mit freundlichem Wort- ihr ganzes Wesen und ihre Ausstrahlung schien von besonderer Gütigkeit bestimmt. Und mehr noch strahlte die junge Frau aus. Bors beschämte es innerlich, die junge Frau anzusehen, denn neben dieser tief ausgestrahlten Güte war es auch eine besondere Art von Weiblichkeit, die diesen schlanken Körper zu beherrschen schien. Eine Weiblichkeit- nicht durch die körperlichen Reize einer anderen Frau ausgestrahlt- eher eine Ausstrahlung von Weiblichkeit von Natur aus, die zu der weiblichen Schönheit der jungen Frau hinzu vorhanden war.

Marica - Die Letzte der SirenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt