Die Wanderung der Erwählten

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Wäre jemand im Wald unterwegs und würde die Männer sehen- man hätte die drei Menschen für mansische Jäger gehalten. Sie trugen traditionell mansische Kleidung, hatten ihre Gewehre geschultert, trugen ein Jeder das Gepäck auf den Rücken, dass ihre Jagdbeute vermuten ließ.

Es war Spätherbst. Eine gute Zeit für mansische Jäger. Die Wälder sind reich an Wild. Im Frühjahr geborene Tiere waren über den Sommer gut aufgewachsen. Fleisch und Felle konnte die Jäger erwarten.

Doch waren diese vermeintlichen Jäger aus anderem Grunde in diese menschenleere Gegend des Waldes gekommen.

Denn nicht die Hoffnung auf Jagdglück hatte sie hierher geführt- es waren ihre Pflichten.

Sie waren die drei Erwählten des mansischen Volkes, vergleichbar den angesehensten Priestern oder Schamanen anderer Völker. Drei Generationen waren hier vertreten – und Jeder einzelne hatte seinen Schwur des Lebens bereits geleistet. Ein Schwur, der jeden Erwählten nach langer Zeit der Vorbereitung zu einem herausgehobenen Mann in der Gemeinschaft der Mansen erhob.

Erst durch den geleisteten Schwur des Lebens wurde man zum Erwählten- eine Ehre für jede mansische Familie, den Erwählten stellen zu dürfen.

Auch wenn dies um den Preis der persönlichen Verschwiegenheit war und die Erwählten ein Leben in Enthaltsamkeit führten- jeder der Erwählten schien voll des Glückes und der Zufriedenheit. Mit sich selbst, ihrem besonderen Status, mit der Natur, mit den anderen Menschen der Mansi- Sippen der West- Taiga.Eine ehrenvollere Position im Volk der Mansen gab es nicht. Sie wurde nur alle zwanzig Jahre oder nach unerwartetem Tod eines Erwählten neu besetzt. Und keine andere Position im Volk war so geheimnisumwoben. Denn es war nur den drei Erwählten gestattet, zweimal im Jahr den Kontakt zu den Göttern in der Abgeschiedenheit des westlichen Taiga- Wälder aufzunehmen.

Alle Mansen kannten die uralten Geschichten. Man erzählte sie sich manchmal an Abenden beim Feuer- und nur dann, wenn keine Fremden im Kreis waren. Dies war ein heiliges Gebot- kein Mansi würde es jemals brechen. Denn alle Mansen hatten sich dieser einen wichtigen Aufgabe verschrieben: die Gottheit zu beschützen. Da dies seit jeher so war, zweifelte auch niemand unter ihnen diese Aufgabe an- im Gegenteil.

Auch wenn es nur den Erwählten erlaubt war, zu den heiligen Stätten zu gehen und mit der Gottheit in Kontakt zu treten, so waren alle Mansen gleichermaßen erfreut über die Wanderung der Erwählten. Bei deren Rückkehr wird lange und sehr fröhlich gefeiert und der Wille der Gottheit kund getan.Jedem Besucher würde ein Besuch dieser Feiern untersagt werden, denn kein Mansi wollte zu Fremden darüber sprechen.

Die drei Erwählten blieben auf dem kaum zu erkennenden Pfad stehen. Die mandelförmigen Augen suchten den Blick in den Wald, bevor sie einander ansahen und die zwei vorderen Männer wortlos ihre Kapuzen nach hinten auf die Jacken warfen.

Lonok, der älteste mit gut sechzig Jahren nahm als Erster den Mundschutz herunter, welcher ihn vor den lästigen Mücken im herbstlichen Geflimmer schützte. Er war in den letzten vierzig Jahren  den heiligen Pfad zweimal im Jahr gegangen.

Hier, wo andere Leute keinen Weg oder Steg zu erkennen vermochten, schritt er sicher an der Spitze der Drei durch den Wald voran.

Relan, der zweite Erwählte war etwas über vierzig Jahre und damit die Hälfte seines bisherigen Lebens als Erwählter bestimmt. Obgleich auch er sich auskannte und den Pfad finden konnte, aus Ehrerbietung vor Lonok folgte er nach.

Lonok blickte nach hinten- zu Bors, dem mit zwanzig Lebensjahren jüngsten der drei Erwählten.

Auch Relan drehte sich nun zu Bors um, zog den Mundschutz herunter.Bors hatte aufgeschlossen. Gut so.

Marica - Die Letzte der SirenenOnde histórias criam vida. Descubra agora