Enthüllung

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Das Zelt lies kaum Platz für einen weiteren Gast. Es war eine bedrückende Enge darin.

Marica fühlte sich erkennbar unwohl. Sie kam sich vor, wie ein freiheitsliebendes Tier, welches in ein Gatter mit Raubtieren eingesperrt wurde. Fast erstarrt von dem Gefühl, hier in der Falle zu sitzen, musterte Marica die Gesichter der Menschen im Zelt und warf über ihre Schulter schon einen verstohlenen Blick zurück- zum Ausgang des Zeltes.

Dort hatten sich die zwei Nachfolgenden grade ebenfalls ihren Weg in den Innenraum gebahnt. gemeinsam kämpften sie gegen die eisigen Winde an, um die Tür des Zeltes aus dem Innenraum verschlossen zu bekommen. Durch die Kälte und den Frost taugten die Handschuhe nicht, die Knopfleisten zu schließen. So schienen sich die Zwei einig darin, dass Einer wohl die flatternden, im Schneesturm herumtanzenden Seiten der Zeltbahnen am Eingang festhält, während der Andere sie ohne Handschuh und mit klammen Fingern zuknöpfte und mehr und mehr verschloss.

Zwei Frauen rutschten etwas auseinander und boten mit Gesten einen engen Platz zwischen sich an.

Marica belohnte dieses Angebot mit einem kurzen Lächeln. Gleichwohl gefiel ihr diese Enge innerlich nicht. Sie verlies die gebeugte, hockende Stellung. Stehen konnte man in diesem kleinen Zelt nicht. Im Entengang hatte sie sich zwischen Beinen der Zeltbewohner und deren überall verteilten Ausrüstungen bis hier in die Mitte bewegt. So kniete sie nun auf der freigemachten Stelle kurz und drehte sich auf engstem Raum, bis sie sich setzen konnte. Es erschien Marica so, als würden sich alle Personen in diesem Zelt aus Angst vor ihr nicht bewegen oder etwas sagen wollen. Ja- es war wohl Angst, was diese Leute zeigten. Angst vor Marica und der Art und Weise, wie sie selbst mit dem, was sich soeben auf dem eisigen Plateau zugetragen hatte. Angst vor dem Unerklärlichen. Angst vor dem schwer zu verstehenden 'Etwas', dass Marica in ihren Augen darstellen musste. Sie würden sich innerlich Fragen stellen. Fragen, wer sie ist oder besser noch, was sie ist.

Der junge Mann, welcher vorhin dort auf der Ebene sich nahe zu ihr bewegt hatte, wandte sich nun an Marica und durchbrach damit die Stille im Zelt.

"Ich bin Juri. Juri Igorowitsch Olbekin. Wir sind Studenten und Absolventen des Polytechnischen Institutes des Ural. Sportler! Von einem Sportverein!"

Marica nahm die Worte auf, doch sie klangen wie hilflose Versuche, mit ihr- als für diese Leute fremdes Wesen- in Kontakt zu treten.

Juri Olbekin fühlte sich in der Tat so, wie es auf Marica den Eindruck machte. Dennoch setzte er seine Versuche fort, mit ihr zu kommunizieren. Auch Olbekin wusste nicht, woran er mit dieser jungen hübschen Frau war, was sie hier oben auf den Bergen des Ural im Schneetreiben zu finden hoffte oder warum sie diese unbeschreiblichen Fähigkeiten besaß. So etwas- was diese junge Frau vor kurzem hier draußen demonstriert hatte-  hätte er nie für möglich gehalten. Es war mit dem klassischen kognitiven Erfahrungen und Möglichkeiten, mit Wissenschaft im Allgemeinen, nicht zu erklären. Nicht einmal Vermutungen konnte man anstellen, was diese Frau für ein Wesen sein konnte. Juri Olbekin hoffte, dass die Frau sein Russisch verstehen würde, denn schließlich befand man sich- hier an der Grenze zwischen Europa und Asien- mitten im Herzen von Mütterchen Russland, inmitten der Größe der Sowjetunion. Diese Unwissenheit zeigte Juri auch dadurch, dass er neben klarer Aussprache auch Gesten zur Unterstützung seiner Worte einsetzte. Er zeigte auf die Leute, welche er der Frau vorstellte und blieb sofort bei einem vertraulichen "Du", wie man halt mit Leuten seines Alters- und auch dem scheinbaren jungen Alter der Frau- sprach, um Barrieren abzubauen und Vertraulichkeit  zu schaffen.

"Also ich bin Juri. Neben Dir sind Natasha und Julia. Der dort ganz hinten ist Wassili Koroljow, mein Mitstudent. Der daneben- zwischen Natasha und Wassili- ist der Viktor. Viktor Oribatow von der Fakultät für Physik und Technik. Hier ,neben unserer Julia Radonowa, haben wir den Iwan Gregorov aus Tscheljabinsk, meinen alten Wanderfreund. Daneben ist unser Mann für Grobes und Feines, der Sasha Resutkin. Grob und fein deshalb, weil Sasha Boxer ist und trotzdem einer Mandoline die feinsten Töne entlocken kann. Und die Zwei, die mit der Zelttür gegen Eis und Wind kämpfen, sind der Wanderführer Georgi Warjakow aus Swerdlowsk und unser Boris Russeaux. Ein Bauleiter, auch aus Swerdlowsk stammend. Und wir alle, wie wir hier hocken und liegen, machen eine Skitour. Eine Wanderung! Ausgerichtet vom Sportklub des Institutes. Und Du?"

Marica - Die Letzte der SirenenWhere stories live. Discover now