(4/4) Hunger

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Die nächsten Tage waren geprägt von endlosen Versuchen, Shay zum Auftauen zu bringen. Jedes Mal, wenn Emma zu ihm Kontakt aufnahm, zeigte er ein Verhalten, als hätte es ihre Spiele und Beschäftigungen der Tage davor nicht gegeben. Nur in manchen Momenten ließ er sich anmerken, dass er mit ihr bereits vertrauter wurde, aber darauf war nichts aufzubauen; bei allem, was sie anbot, musste sie sich seine Aufmerksamkeit und sein Vertrauen stets aufs Neue hart erarbeiten.

Das Wetter wurde zunehmend ungemütlicher, und doch zog es Shay täglich nach draußen. Mit der richtigen Kleidung war das kein Problem, aber es hatte einen Nachteil: Sie verbrachte die meiste Zeit damit, hinter ihm her zu laufen, während er ihr auszuweichen versuchte. Das schien kein Spiel zu sein, denn wenn sie ihn endlich fand, zeigte er selten Freude oder auch nur Interesse, er wandte sich ab und ließ sie mit ihren Bemühungen stehen. Seine Verschlossenheit und der misstrauische Blick, mit dem er sie oft bedachte, demonstrierten ihr immer wieder, dass er ihre Gesellschaft nicht haben wollte. Selbst wenn er sich hier und da auf sie einließ, änderte das doch nichts an seiner generellen Haltung. Dabei war ihre erste Begegnung so vielversprechend gewesen ... die Idee mit dem Wettrennen hatte er so spontan angenommen, dass sie davon ausgegangen war, er müsste für weitere Angebote zumindest aufgeschlossen sein. Langsam erkannte sie ihren Irrtum.

Seit Shays Rückkehr nach Shadow Hall war eine gute Woche vergangen. Acht trübe und kalte Tage, an denen sie früh aufgestanden und am Abend totmüde ins Bett gefallen war. Sie verbrachte die Zeit damit, ihm so unauffällig wie möglich auf den Fersen zu bleiben, ihn zu beobachten, dabei Gelegenheiten zur Annäherung abzupassen; sie pirschte sich an, als gälte es, einen wilden Fuchs dazu zu bringen, ihr aus der Hand zu fressen. In den seltenen und kostbaren Augenblicken, die es hin und wieder gab, sprach er mit ihr. Und sie ließ ihn reden, bestärkte ihn, so gut sie konnte, in allem, was er mitteilte. Er sollte wissen, dass es nichts an seinen Äußerungen gab, was sie nicht ernst nehmen würde.

Seine Art sich auszudrücken war erstaunlich klar

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Seine Art sich auszudrücken war erstaunlich klar. Für sein Alter hatte er einen herausragenden Wortschatz. Auch die Gedanken, die er äußerte, zeugten von einer lebendigen Intelligenz und Beobachtungsgabe. Es war nicht so, dass ihn sein Umfeld nicht interessierte, und er schien den Kontakt zu anderen Menschen nicht gänzlich abzulehnen. Aber es kam ihr vor, als gäbe es eine Art Code, ein Losungswort, ein magisches Zeichen, das man bedienen musste, wenn man Zugang zu seinem Innern gewinnen wollte. Wie sie von Hagan wusste, hatte er für ein halbes Jahr ganz zu sprechen aufgehört. Erst seit ungefähr vier Monaten sprach er überhaupt wieder; in seinen eigenen kreativen, beinahe mystisch anmutenden Worten, aber auch mit seiner feinen Mimik, seinem Gesicht. Sogar, wenn er tief in sich gekehrt schien, zeigte er seiner Umgebung auf faszinierende Weise, was er fühlte und dachte. Er musste ihr nur erlauben, in seiner Nähe zu sein; dann konnte sie von seiner bewegten Stirn und den Lippen, von den Schatten, die um seine Augen lagen und seinem unruhig suchenden Blick regelrecht ablesen, wie es ihm gerade ging. Oder was die Reize seiner ursprünglichen und märchenhaften Umgebung in ihm auslösten, denn das Haus und auch die Natur berührten offenbar etwas in ihm. Mit beiden schien er zu kommunizieren, ja, es wirkte, als gäbe es eine geheime Sprache, eine magische Verständigungsebene zwischen ihm und den stillen Räumen, den Mauern und verborgenen Winkeln des Anwesens - sie spürte seinen starken Bezug zum Wald und den Bäumen ringsum, zu den Felsen und Hügeln, den Tieren und dem Wetter.

SHADOW HALL - Eine Geistergeschichte aus Irland #ThebestwriterAward2019Where stories live. Discover now