(4/3) Das dunkle Zimmer

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Atemlos lief Emma in den Hof hinein. Wie schnell er im Nebel verschwunden war! Auch jetzt sah sie ihn nirgends. Ob er den Hintereingang genommen hatte? Sie warf einen Blick auf ihre verdreckten Stiefel. Damit wollte sie ungern die Halle betreten, Myrna Sullivan würde ihr die Hölle heiß machen. Also wandte sie sich nach links, um dem gepflasterten Weg zur Rückseite des Hauses zu folgen.

Beinahe hatte sie die Ecke des Gebäudes erreicht, da nahm sie im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Da war etwas - im Fenster, unter dem sie gerade vorbei laufen wollte. Sie hielt an, starrte zu der mit hellen Sprossen unterteilten Scheibe hinauf. Dieses letzte Fenster in der Reihe war zur Hälfte von Efeu bedeckt, die dichten, dunkelgrün belaubten Verästelungen wucherten vom Kaminschacht herüber, der gleich daneben lag. Staub und Dreck von den Bäumen ringsum hatte sich als matte Schicht auf dem Glas abgelagert. Dahinter herrschte Dunkelheit. Entweder fiel hier wegen des Efeus kaum Tageslicht hinein, oder die Scheibe war von innen durch einen dunklen Vorhang verdeckt. Genau war das nicht zu sagen, denn das Fenstersims lag auf Höhe ihrer Stirn; es war ihr nicht möglich, in den Raum hinein zu sehen.
Ob es der Junge gewesen war, der sich dort oben bewegt hatte? Wollte er sehen, wo sie blieb? Aber so schnell war er wohl kaum ins Haus gekommen, er musste sich ja erst seiner dreckigen Schuhe entledigen. Sicher war es nur eine Reflexion. Ein hell gefiederter Vogel vielleicht. Eine Taube, die im Tiefflug über den Hof gehuscht war.

 Eine Taube, die im Tiefflug über den Hof gehuscht war

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An der Gesindetür streifte Emma ihre Stiefel ab und schlüpfte auf Socken in die schmale Diele. In der Küche, die gleich rechts lag, rumpelte es mehrmals und das Murmeln einer weiblichen Stimme drang an ihre Ohren. Als sie unter dem niedrigen Türrahmen hindurch lugte, fand sie Myrna vor dem alten Herd kniend. Sie war damit beschäftigt, Feuerholz in die Öffnung zu schieben. Als sie Emma sah, richtete sie den Oberkörper auf und schnaufte. "Er ist dir entwischt", stellte sie trocken fest.

Emma hatte das Bedürfnis sich zu verteidigen. "Oh, nein, das ... gehört zum Spiel. Wir haben ein Wettrennen zum Haus zurück gemacht. Er war schneller als ich."

"Ah", stieß die Haushälterin aus und setzte ihre Arbeit fort. Der Raum unterhalb der Ofenklappe schien eine Menge Holz zu fassen.
Als Myrna nach den nächsten beiden Scheiten griff, streifte ihr Blick Emmas Socken. "Tut mir ja leid für dich, dass du ausgerechnet im Winter herkommen musstest. Der Boden ist kalt. An manchen Tagen ist es drinnen so ungemütlich wie draußen. Zieh dir bloß schnell etwas an die Füße, sonst erwischt es dich noch so arg wie mich." Sie ließ die Scheite vor ihren Knien liegen, zog ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und schnäuzte sich laut und ausgiebig. "Hab mir was einfangen unterwegs."

Während Myrna redete, lauschte Emma über den Flur und in die Tiefe des Hauses hinein. Es würde gut sein, wenn sie an ihrem ersten Kontakt zu Shay anknüpfen konnte, sie wollte nicht zu viel Zeit verstreichen lassen. Vielleicht hockte er jetzt irgendwo und wartete darauf, dass sie ihn fand. Aber sie wollte nicht unhöflich sein.
"Dann mussten Sie am Bahnhof lange auf Shay warten? Es ist wirklich sehr nass und kalt heute."

SHADOW HALL - Eine Geistergeschichte aus Irland #ThebestwriterAward2019Where stories live. Discover now