(2/6) Wahrheit

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Aus seiner Trance aufwachend wandte er sich ihr zu. Als Emma seine Augen, seinen hellen, beinahe transparenten Blick sah, wusste sie plötzlich, was dieser abwesende und weltferne Ausdruck, der ihr gleich an ihm aufgefallen war, zu bedeuten hatte. Er war nicht wirklich hier, schien nach dem Tod seiner Frau nie in die neue Realität hinüber gefunden zu haben, jedenfalls nicht ganz und vollständig. Sicher war das Leben für ihn weiter gegangen, er hatte auf die Veränderung reagiert, hatte wahrscheinlich dies und das geregelt oder umgestellt, sich um die äußeren Dinge gekümmert. Aber er selbst war offenbar irgendwo verloren gegangen und schwebte nun im Nirgendwo. Es war kein Wunder, dass er seinem Sohn nicht helfen konnte, die Realität anzunehmen, wie sie jetzt war. Hilflos suchten seine Augen in den Schatten jenseits des Feuerscheins, schweiften unruhig nach hier und da, bis sie zurück in ihr Gesicht fanden. Er verzog den Mund, es hatte wohl ein Lächeln werden sollen.
"Ich bin nicht gut darin, die richtigen Worte zu finden. Oder besser gesagt: Ich habe Worte, aber sie wollen nicht heraus. Ich kann es nur versuchen."

Emma nickte und wartete, dass er weiter sprach.

"Es war ... im letzten Jahr, Ende Oktober. Ein kalter Monat mit Sturm und frühem Frost." Er hielt den Teller auf seinem Bein fest, griff in die Schale und nahm sich eine weitere Mozartkugel. "Sie ... es ging ihr nicht gut, schon länger nicht. Der Arzt sagte, es seien Depressionen, aber sie sah das anders. Sie hatte sich verändert, einfach so, wir fanden keinen Grund, keinen Auslöser. Medikamente wollte sie nicht nehmen." Er wich Emmas Blick aus und sah wieder ins Leere. "Im Oktober, da hat sie ... da ist sie ..." Er zog seine Lippen zwischen die Zähne, presste sie zusammen, als wollte er die Worte zurück halten, sein Gesicht wurde zur Maske. Schließlich hob er die Hand, wischte sich die Nase, schüttelte den Kopf. "Bitte entschuldigen Sie, das ist immer noch sehr ... es ist nicht einfach, das zu sagen."

"Oh, das ist in Ordnung. Ich weiß, wie schwer das ist. Es kann lange dauern, bis es zur Gewohnheit wird, darüber zu reden. Man muss das üben."
Dafür, dass sie, eine Fremde, hier gerade erst angekommen war, wagte sie viel. Aber sie verstand ihn so gut, sie kannte das alles - und sie wollte ihm ihr Verständnis und ihre tiefere Einsicht in das Thema nicht vorenthalten. Wer wusste schon, wie viele - oder wie wenige - ihn bisher wirklich verstanden hatten.

Hagan atmete tief ein. Die Schokolade war geschmolzen. Er steckte sich den Rest in den Mund, nahm eine Serviette vom Tablett, wischte sich die Finger ab. Emma sah, wie seine Augen glänzten. Während er kaute, blinzelte er ins Feuer.
"Wissen Sie", begann er schließlich und seine Stimme zitterte ein wenig, "Sie ... ist einfach verschwunden. Und ich vermisse sie. Aber ich kann nicht anders, ich bin auch wütend, dass sie uns so zurück gelassen hat."

"Sie ist ... verschwunden ... Das heißt, Sie haben sie seitdem nicht wieder gefunden? Aber Sie wissen, dass sie ... tot ist?"

Wieder schüttelte er den Kopf. Er fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht, als wollte er wach werden. Über seine Fingerspitzen hinweg sah er sie an, in seinem Blick stand eine Ratlosigkeit, die kaum zu ertragen war.
"Ich weiß, ich rede wirres Zeug. Das kann man nicht verstehen. Es tut mir leid. Bitte - nehmen Sie Zucker und Milch in Ihren Tee, wenn Sie mögen." Er schob ihr den Teller mit den Broten hin. "Und bedienen Sie sich. Sie waren den ganzen Tag unterwegs und haben sicher nur zwischen Tür und Angel gegessen."

Sie hatte auf einmal gar keinen Hunger mehr, aber sie wollte höflich sein. Und wer wusste schon, ob sie in der Nacht Hunger bekommen würde, wenn sie jetzt nicht zumindest eines dieser leckeren Schinkenbrote nahm. Sie hatte schon gedacht, seine Erzählung würde heute nicht mehr über mysteriöse Andeutungen hinaus kommen. Umso erstaunter war sie, als er einen zweiten Anlauf nahm.

"Sie müssen wissen, was wir wissen, Emma. Das ist wichtig. Also ... meine Frau, Shays Mutter ... Rosaleen ... sie ist ... verschwunden. Oder sie ist hier, am Horn Head, von der Klippe gesprungen. Bei The Ross wahrscheinlich. Oder auch weiter oben, sagt die Polizei." Er atmete tief aus. "So ist das. Wir haben ihren Schal gefunden, ihr Schultertuch, sonst nichts. Unten, am Strand von Dunfanaghy wurde es angespült. Nach dem Sturm."

SHADOW HALL - Eine Geistergeschichte aus Irland #ThebestwriterAward2019Where stories live. Discover now