(4/1) Leinen

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Der Regen hielt den gesamten Nachmittag über an. Auch in der darauf folgenden Nacht wurde er nicht weniger. Von den heftigen Windböen gegen das Fenster gedrückt trommelte er Emma immer wieder aus dem Schlaf heraus. Ihr Bett war herrlich bequem und sie mochte ihr Zimmer, aber das half bei dem Wetter nichts. Im ganzen Haus war das laute Prasseln der herunter strömenden Wassermassen zu hören, auch musste es auf dem Dachboden eine Tür geben, die von der Zugluft immer wieder gegen den Rahmen gestoßen wurde. Das unregelmäßige dumpfe Geräusch machte sie nervös. Es war zu leise, als dass sie den Mut aufbringen wollte, nach der Quelle zu suchen und es abzustellen - und es war aber zu sehr hörbar und auch zu unregelmäßig, um dabei einschlafen zu können.

Inzwischen war es kurz nach ein Uhr. Sie hatte aufgegeben, im Dunkeln zu liegen, dem Regen und Wind zu lauschen und darauf zu warten, dass das nervige Gepolter über ihrer Zimmerdecke aufhörte, nur um kurz darauf wieder neu zu beginnen. Die beiden Lampen verbreiteten ein sanftes Licht im Raum, und doch konnte sie sich nicht entspannen. Schließlich griff sie nach ihrem Tagebuch; sie wollte aufholen, was sie seit dem Abend vor ihrem Flug nicht mehr weiter berichtet hatte. In den letzten achtundvierzig Stunden war so viel passiert! Vielleicht trugen die vielen neuen Eindrücke ja auch dazu bei, dass sie keine Ruhe fand und ihr Kopf einfach nicht aufhörte zu rappeln.
Es gab genug zu erzählen. Im Schneidersitz, die Decke über die Schultern gezogen, saß sie auf ihrem Bett und schrieb eine Weile. Aber nachdem sie von ihrer Anreise und ihrer Ankunft in Shadow Hall berichtet und eine Skizze von der Landschaft, dem kleinen Wald, den Klippen und der Bucht von Dunfanaghy gezeichnet hatte, zögerte sie. Es war seltsam; normalerweise gehörten der Zwischenfall mit der Frau auf dem Weg und ihre Begegnung mit Cillian zu der Sorte Ereignisse, denen sie auf jeden Fall ein gutes Kapitel widmen würde. Wozu führte man ein Tagebuch, wenn nicht wegen solcher Dinge? Sie hatte sich fest vorgenommen darüber zu schreiben. Trotzdem verspürte sie jetzt einen eigenartigen Widerwillen. Beides waren Themen, die so sehr mit Emotionen beladen waren und an denen zugleich so viel Ratlosigkeit und Unsicherheit hing, dass sie es nicht wagte, sie auf Papier zu bannen. Es war, als stünde es ihr dann so deutlich vor Augen, dass sie gezwungen war, sich ernsthaft damit auseinander zu setzen. Vielleicht war es besser, alles noch ein wenig sacken zu lassen. Sie war ja gerade erst angekommen.

Nach langem Hin und Her entschied sie sich, die Geschichte mit der Frau auszulassen

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Nach langem Hin und Her entschied sie sich, die Geschichte mit der Frau auszulassen. Sie wollte sie vergessen. Später, wenn sie in ihrem Tagebuch über ihre Zeit in Irland nachlesen würde, sollte nichts an sie erinnern. Aber Cillian durfte nicht fehlen. Auch, weil sie wohl damit rechnen durfte, ihm noch öfters zu begegnen. Da konnte sie ihm genauso gut auch jetzt bereits einen Abschnitt widmen - auf diese Weise war er in ihren Aufzeichnungen schon einmal vorgestellt. Also machte sie sich daran, über ihren Ausflug zu den Klippen zu schreiben und davon, wie er sie davor bewahrt hatte, in ihrem Schwindelanfall hinunter zu stürzen.
Sie musste grinsen, als sie ihn schließlich zeichnete, wie er hinter dem Ilexbusch stand. Sie malte ihm eine Sprechblase über den Kopf und schrieb hinein, was er zu ihr gesagt hatte. Im Regen, auf dem Weg nach Dunfanaghy. Hey, Mädchen ohne Antworten! Darf der Typ mit den Fragen dich mitnehmen? Mädchen ohne Antworten ... Dafür, dass er sie gar nicht kannte, kam seine als Witz getarnte Einschätzung nicht übel hin. Er hatte ja Recht, in ihrem Kopf gab es einen gewaltigen Haufen Ungesagtes. Das konnte er natürlich nicht wissen - dennoch hatte er es voll auf den Punkt getroffen. Wenn es darum ging, etwas laut und vor Fremden auszusprechen, war sie scheu wie eine Kellerassel. Dass er trotzdem nicht locker gelassen hatte, machte sie nachdenklich.
Das Tagebuch gegen die Brust gedrückt ließ sie sich rückwärts in die Kissen fallen. Warum war er so wild darauf gewesen, mit ihr ins Gespräch zu kommen? In ihrer Welt gab es nur zwei Antworten darauf: Entweder sammelte er Bekanntschaften wie diese, weil er sich langweilte und es seine Art war, jede Chance auf Abwechslung zu nutzen, insbesondere, wenn Mädchen diese versprachen - oder er mochte sie irgendwie.

SHADOW HALL - Eine Geistergeschichte aus Irland #ThebestwriterAward2019Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora