(6/4) Heimweh

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Wie ein Stein hatte sie geschlafen und den Weckton, den sie extra laut eingestellt hatte, überhört

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Wie ein Stein hatte sie geschlafen und den Weckton, den sie extra laut eingestellt hatte, überhört. Irgendwann musste sie ihn ausgeschaltet und sich die warmen Decken wieder über die Ohren gezogen haben. Sie erinnerte sich schwach ... Ihr Hals schmerzte. Und die Nase war verstopft. In die Dunkelheit hinein blinzelnd lag sie da, zu kraftlos, um nach ihrem Handy zu sehen. Es war nur die Gewohnheit. Wer würde ihr schreiben, welche interessanten Nachrichten konnten diesen schweren, müden Kopf aufwecken? Da gab es nichts. Sie war zu lange aus Deutschland weg, als dass noch jemand täglich an sie dachte. Und nicht, dass sie Lust gehabt hätte, auf irgendwelche Fragen zu antworten. Was sie hier tat, wie ihr Leben aktuell aussah, war nicht zu beschreiben.
Sie streckte sich, spürte in ihre schmerzenden Muskeln hinein. Konnte sie diesen Tag nicht einfach auslassen und im Bett bleiben? Eine Weile lag sie still und dachte an alles und nichts - bis sie schließlich doch nach dem Handy angelte. Sie brauchte die Uhrzeit. Kurz vor acht war es schon ... Wo war der Hebel, mit dem man die Zeit anhielt?

Aus dem Erdgeschoss klang das Scheppern von Geschirr, getragen von Myrnas energischem Gesang, bis an ihre Zimmertür hinauf

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Aus dem Erdgeschoss klang das Scheppern von Geschirr, getragen von Myrnas energischem Gesang, bis an ihre Zimmertür hinauf. Es war ein Weckgesang. Man erkannte es stets an der besonderen Lautstärke und dass ihm die ansonsten gewohnte rustikale Schönheit fehlte. Auch die dramatische Inbrunst, die sie grundsätzlich in ihre Lieder hinein gab, nahm beim Weckgesang aufdringliche Züge an.

So grob ihre äußere Gestalt und Art auch wirkten: Sie hatte eine beachtlich trainierte und angenehme Stimme, wie Emma bereits in ihren ersten Tagen in Shadow Hall hatte bemerken dürfen. Es war zu spüren, dass diese Frau das Singen mindestens so liebte wie das Backen. Nur wenn sie ihren Teig rührte oder wenn sie sang - in der Regel tat sie beides miteinander - geschah diese wundersame Wandlung in ihrem ansonsten kritisch und streng dreinblickenden Gesicht; es wurde lieblich und weich wie ein reifer Pfirsich. Und manchmal, da hatte sie exakt die selbe Milde und warmherzige Liebe in den Augen, wenn sie Shay ansah.

Die Zitronenkuchenfrau, wie Emma sie noch immer heimlich nannte, war eine eifrige Kirchgängerin, nie versäumte sie die Sonntagsmesse. Im Grunde wurde beinahe alles, was sie tat, von christlichen Gesängen begleitet, im Mix mit traditionellen irischen Volksliedern, die sie gerne in der gälischen Version sang. Die schweren, getragenen Kirchenhymnen und epischen Balladen schien sie besonders zu mögen. Aber wenn sie die Bewohner von Shadow Hall aus den Federn sang, konnte jedes Lied, egal, welcher Art, zu einem subtil aggressiven Weckruf werden. Wie überall auf der Welt war es auch hier der Ton, der die Musik machte.

SHADOW HALL - Eine Geistergeschichte aus Irland #ThebestwriterAward2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt