Kapitel 30

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„Warum machst du auch so eine Scheiße, du hättest drauf gehen können! Hoffentlich hat dir deine Mutter ordentlich den Hintern versohlt, ansonsten muss ich das noch nachholen!"

Majas linke Hand liegt verschränkt in Finns, während sie mit ihrer rechten wild gestikuliert und mal wieder all ihr Temperament zum Vorschein kommt. Sie waren vor wenigen Minuten hereingekommen, wobei mir als aller erstes ihr Bauch aufgefallen war, der nach unserem letzten Treffen, das schon zu lange zurück liegt, einiges an Umfang dazu gewonnen hat.

Nachdem Luke mich wieder hergebracht hatte, waren meine Eltern außer Rand und Band und ich kann von Glück sprechen, dass sie niemandem der Angestellten den Kopf abgerissen haben. Picasso war später, auf meine Bitte hin, nach Hause gefahren, hatte mir aber versprochen heute wiederzukommen. Ich genieße jede einzelne Sekunde mit ihm, die uns noch übrig bleibt.

Wenn man nicht mehr viel Zeit hat merkt man erst wie schnell sie einem davonläuft. Wie die einzelnen Sandkörner, die Stück für Stück durch die Sanduhr rieseln und einem deutlich machen, dass die Zeit bald abgelaufen ist.

Dass meine Zeit bald abgelaufen ist.

„Bin ich aber nicht, zumindest noch nicht, also entspannt euch alle mal und spart euch die Kraft bis es wirklich soweit ist."

Betretene Stille legt sich über uns, sodass ich bloß auf die weiße Decke starre, die meinen schwachen Körper verdeckt und mich in eine angenehme Wärme hüllt.

„Es ist endgültig, oder?" Finn spricht die Worte aus, die ich noch nicht über die Lippen gebracht habe.

Ich hasse dieses Wort. Endgültig.

Ist es denn überhaupt mit dem Tod endgültig? Und selbst wenn es so sein sollte, bedeutet es doch noch lange nicht, dass das eigene Leben auf einen Schlag komplett ausgelöscht ist. Wir leben nach unserem Tod doch immer noch auf unterschiedlichste Weise weiter, oder?

Ob es materielle Dinge wie beispielsweise eine Zeichnung sind, die hinterlassen wurde oder ob es die Gedanken und Erinnerungen sind, die uns in den Herzen und Köpfen der Menschen, die uns kannten weiterleben lassen. Irgendetwas bleibt immer zurück und nichts ist so richtig vorbei.

Als ich meinen Blick wieder vorsichtig anhebe, begegne ich Finns, der mich nachdenklich anstarrt und Majas Augen, in denen sich erneut Tränen gesammelt haben.

„Wie geht es jetzt weiter?"

Ihre Stimme zittert und klingt unheimlich schwach, was verursacht, dass es mir kalt den Rücken hinunterläuft.

„Ich werde höchstwahrscheinlich die nächsten Tage entlassen. Und dann denke ich mal abwarten und Tee trinken, auch wenn ich keinen mag und schauen wie lange ich es noch mit euch aushalte."

Ich versuche mich an einem frechen Grinsen, das jedoch keinen Anklang bei den Anderen findet, eher im Gegenteil. Der Brustkorb meiner besten Freundin bewegt sich heftig auf und ab, während sie versucht die Tränen und die Schluchzer zu unterdrücken. Finn streicht ihr beruhigend über den Rücken, was jedoch keine Besserung bringt.

„Keine Sorge, ich gehe nicht ohne dem kleinen Würmchen noch schlechte Manieren beizubringen."

Natürlich weiß ich, dass dies wahrscheinlich nicht mehr passieren wird und dass es ein kläglicher Versuch ist Trost und Hoffnung zu spenden. Und doch tue ich es trotzdem, da ich alles für die Menschen tun würde, die ich liebe. Ich würde für sie sogar von der Brücke springen, nicht dass ich das schonmal versucht hätte.

Mir tut das kleine Würmchen leid. Eigentlich sollte jetzt alle Aufmerksamkeit auf ihm liegen, seine zukünftigen Eltern sollten nichts als Freude, Aufregung und Liebe verspüren und sich bloß Sorgen darum machen müssen, in welcher Farbe das Kinderzimmer gestrichen werden soll. Rot oder blau? Oder vielleicht doch grün?

Für den Augenblick Where stories live. Discover now