3. Ein neuer Freund

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Am nächsten Tag erfuhr ich schon vor dem Frühstück von einem Mitarbeiter, dass ich den Dienst bei den Kindern nicht mehr weiter führen durfte. Gally und ich waren gerade in den Speisesaal gekommen, da kam er sogleich auf mich zu.
„Was ist an diesem Newt denn so besonders, dass du für ihn deinen Job aufgeben sollst?", fragte Gally mich mit gerunzelter Stirn, während wir uns mit unserem Essen zu Minho und Gallys Kumpeln setzten.
Ich zuckte mit den Schultern, wieder voll in die gegenwärtige Situation katapultiert, nachdem ich es etwas verdrängt hatte. Dann fiel mir mein Gegenüber ins Auge und ich verschluckte mich an meinem Brot.
„Heath! Oh Gott, wie siehst du denn aus?!", stieß ich zwischen zwei Hustenanfällen hervor.
Minho klopfte mir mit der Faust auf den Rücken. Heath hatte ein blaues Auge, ein blaues Kinn und mitten im Gesicht einen großen Verband um die Nase. Ich war entsetzt und schaute Gally vorwurfsvoll an. Der zuckte nur mit den Schultern und lachte. Heath lachte auch und zwinkerte mir zu.
„Ohne Gally wäre es doch langweilig, oder, Anna?"
Ich schluckte. Es wäre nicht nur langweilig. Aber ich drängte diesen Gedanken aus meinem Kopf und aß stattdessen schnell auf. Ich musste mit Thomas reden. Und da sah ich ihn endlich, an einem Tisch etwas abseits mit Teresa – und Newt. Ich zwinkerte ein paar Mal, um sicher zu gehen, dass sich meine Augen nicht täuschten, aber so war es nicht. Newt saß dort bei den beiden, aß und sah ziemlich verwirrt aus.
Abrupt stand ich auf, nahm mein Tablett und brachte es weg. Gally kam mir hinterher, ging jedoch mit einem „Lass dich nicht tot quatschen von dem Spinner" mit den anderen Jungen raus, nachdem er gesehen hatte, dass ich mich auf den Weg zu Thomas machte. Er konnte ihn nicht leiden, das war kein Geheimnis, aber das war mir in diesem Moment mehr als recht. Er durfte nicht hören, was ich mit Thomas zu bereden hatte.
Als ich bei den drei ankam sah Teresa hoch, nahm ihr Tablett, stieß ihren Stuhl beinahe um und ging, ohne ein Wort zu sagen mit ihrem noch kaum angerührten Frühstück. Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihr nach. Ich verstand bis heute nicht, was sie hatte. Ich hatte ihr nie etwas getan, aber seit dem Tag, an dem sie hierher gebracht wurde und dank ihrer überragenden Intelligenz sofort in die Überwachungslabors zu Thomas befördert wurde, hatte sie nicht ein vernünftiges Wort mit einem von uns Probanden gesprochen.
Thomas warf mir einen entschuldigenden Blick zu und lächelte mich dann breit an.
„Anna! Schön, dich zu sehen! Wie geht es dir?"
„Hey Tommy, hey Newt."
Ich schenkte dem Anderen ein breites Lächeln und setzte mich den beiden gegenüber, auf Teresas Platz, die mittlerweile schon den Saal verlassen hatte.
„Ich dachte, ich hole Newt ab, dann zeige ich ihm mal alles, was es so zu sehen gibt", erklärte ich und sah, wie Newt mich dankbar anlächelte. „Aber vorher muss ich mit dir reden, Tommy. Ich... Ich brauche deine Hilfe. Dringend."
„Was gibt es?", fragte Thomas und sah mich ernst an. „Geht es um Gally? Weißt du, dass...?"
Ich unterbrach ihn. „Ja, weiß ich. Janson hat es mir gesagt. Bitte Tommy, du musst mir helfen. Ich kann es ihm einfach nicht sagen, aber ich muss mich von ihm verabschieden können. Das würde ich mir sonst nie verzeihen..."
Thomas nickte wissend. „Ja, ich verstehe. Wir bekommen das hin. Gally wird morgen Abend geholt. Er wird dann die Nacht über alleine verbringen und am nächsten Morgen in die Gedächtniskammer gebracht. In dieser Nacht gehen wir rein. Dann kannst du dich verabschieden."
Ich sprang auf und umarmte Thomas stürmisch über den Tisch hinweg. „Danke! Ich stehe tief in deiner Schuld, Tommy!"
Thomas winkte ab. „So, und jetzt haut ab, bevor noch jemand Verdacht schöpft!"
Damit stand ich auf und wartete, dass Newt sein Tablett weggebracht hatte.
„Morgen Nacht um 2 Uhr vor deinem Zimmer. Ich werde pünktlich sein!", flüsterte Thomas. Ich nickte und verließ dann mit Newt den Raum.

„Und zum Schluss gehen wir jetzt noch zu den Zimmern. Das sollte für heute reichen, morgen machen wir weiter. Ich zeige dir, wo du demnächst schlafen wirst. Wir werden uns ein Zimmer teilen."
Newt folgte mir schon den ganzen Tag auf dem Fuß, hörte mir zu und nickte immer wieder. Zwischendurch stellte er eine Frage und hörte sich die Antwort interessiert an.
Er ist sehr nett.
Ja, das war er. Ich mochte ihn wirklich.
Zwischenzeitlich hatte ich sogar vergessen, dass er Gallys Platz in unserem Zimmer schon morgen Abend ersetzen würde. Aber jetzt, als wir den langen weißen Gang zu den Zimmern entlang liefen fiel mir alles wieder ein. Ich blieb vor der Tür mit der Nummer 104 stehen und öffnete sie mit meiner Karte. Dann trat ich ein und hielt Newt die Tür auf. Er sah sich um, ich zeigte ihm das kleine Badezimmer und dann Gallys Bett. Sein Bett.
„Es ist nicht groß, aber es reicht. Auf jeden Fall besser als dein Zimmer da unten", sagte ich und Newt nickte.
„Er wohnt hier, richtig?"
Ich sah ihn verständnislos an.
„Gally. So heißt er doch, oder? Thomas hat seinen Namen genannt. Ist er dein Freund?" Newt sah mich neugierig an mit seinen dunkelbraunen Augen.
Teddybäraugen, geisterte es mir durch den Kopf.
„Was passiert mit ihm? Warum wird sein Platz frei? Was passiert mit den Jungen, wenn sie verschwinden? Ich konnte euch beim Essen nicht folgen. Aber Thomas und Teresa haben sich auch über so merkwürdige Sachen unterhalten. Was ist hier los, Anna?"
Ich schluckte. Wie viel sollte ich ihm an seinem ersten richtigen Tag hier erzählen? Konnte ich es wagen, ihm die Wahrheit zu sagen?
„Gally ist mein bester Freund, so lange wie ich hier bin. Und das ist so ziemlich schon immer, denn ich kann mich an die Zeit vor WICKED nicht erinnern. Ich bin hergekommen, als ich 4 war. Genau wie Gally, Thomas und die meisten anderen hier. Er ist wie mein Bruder, wir teilen uns dieses Zimmer, seit wir 10 sind und haben jede freie Minute miteinander verbracht. Ich weiß nicht, wie viel ich dir erzählen sollte, Newt. Ich weiß nicht, ob du das überhaupt schon hören möchtest."
Er sagt nichts. Er setzte sich einfach auf Gallys Bett und sah mich neugierig an. Und da wusste ich, dass ich es ihm erzählen konnte – alles.
„Gally wird morgen Abend abgeholt und am nächsten Tag in die Gedächtniskammer gebracht. Dort wird sein gesamtes Gedächtnis gelöscht. Dann bringen sie ihn ins Labyrinth, so nennen sie es zumindest. Jeder von uns ist irgendwann dran, außer die, die das Glück haben, besonders intelligent zu sein, so wie Thomas und Teresa. Die behält WICKED, um sie für andere Arbeit zu benutzen.
Sie wollen den Brand bekämpfen, wollen ein Heilmittel finden und dafür brauchen sie uns. Weil wir immun sind. Die meisten von uns zumindest. Sie stecken uns in eines dieser Labyrinthe und beobachten uns, wie wir überleben oder sterben. Nur, um die Welt zu retten, oder das, was davon noch übrig ist."
Ich atmete tief ein, nachdem ich geendet hatte und beobachtete Newts Reaktion genau. Er sah mich mit klarem Blick an, sah überhaupt nicht verschreckt oder eingeschüchtert an.
„Sie holen ihn hier weg? Reißen euch einfach auseinander?"
Ich nickte, verblüfft darüber, dass er anscheinend gar nicht an sich selbst dachte und wie das alles für ihn laufen könnte.
„Was für kranke Menschen sind das denn? Es tut mir so leid, Anna. Gally tut mir so leid, all die anderen tun mir leid, du tust mir leid. Da komme ich her und soll ihn einfach so ersetzen in diesem Zimmer. Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss. Aber bitte glaub mir, dass ich für dich da bin, wenn du jemanden brauchst. Wir werden jetzt ja anscheinend etwas mehr Zeit miteinander verbringen."
Ich starrte ihn entrüstet über diese Reaktion an.
Wer bist du, Newt?
Das war alles, was ich dachte, während ich in seine klaren, dunklen Augen starrte.
„Hey, ist schon gut. Du bist nicht alleine."
Er war aufgestanden und hatte sich neben mich gesetzt. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie mir die Tränen die Wangen herunter liefen. Vorsichtig legte er eine Hand auf meine Schulter und rieb sie behutsam.
Und wie schon gestern Abend saß ich nun wieder hier, schluchzend, aber dieses Mal nicht in Gallys Umarmung, sondern in den Armen von diesem Fremden, der erst seit ein paar Stunden in mein Leben getreten war und bei dem ich mich unerklärlicher Weise so geborgen fühlte, wie seit der ganzen Zeit, die ich nun hier war nicht mehr.

Es war eine Nacht und ein Tag vergangen. Ich hatte so gut es ging versucht Zeit mit Gally zu verbringen, ohne dass er etwas ahnte, aber trotzdem war ich mir sicher, dass er merkte, dass etwas nicht stimmte. Den Tag hatte ich wieder damit verbracht, Newt herumzuführen, und ich musste zugeben, dass er mir immer sympathischer wurde. Er hatte eine ganz besondere, liebe Art, die ich nicht gewohnt war.
Am Mittwochabend, beim Essen, war es dann soweit. Gally wurde von Janson und zwei seiner Männer aus dem Speisesaal geholt. Er durfte sich nicht verabschieden und auch nicht einmal mehr mit uns reden, wie ich erwartet hatte.
Ich merkte, dass mich jemand ansah. Als ich meinen Blick suchend durch den Saal schweifen ließ, in dem gerade die Hölle los war, weil Gally einfach so vom Essen geholt wurde, erkannte ich, wer es war.
Anders als ich erwartet hatte war es nicht Thomas, nein, es war Newt. Er stand genau wie ich zusammen mit Thomas inmitten der durcheinander laufenden und rufenden Jugendlichen und sah mich einfach nur an. Stumm streckte er eine Hand in meine Richtung aus, als wolle er sie mir reichen. Ich zwängte mich zwischen Minho und Ben hindurch und ging auf ihn zu. Die Schreie um mich herum wurden leiser für meine Ohren und als ich bei ihm ankam und er mich in den Arm nahm, vergaß ich sie.
Ich presste meine Augen zu und hielt mich an ihm fest.
„Danke", flüsterte ich.
Ich war mir sicher, dass er mich nicht hören konnte aufgrund der Lautstärke im Raum um uns. Gally war beliebt gewesen bei den meisten und jetzt war die Hölle los.
Wider Erwarten hörte ich, wie er mir „Ich bin für dich da" ins Ohr flüsterte.
Da ertönte lautes Gebrüll, das von keinem Jugendlichen stammte. Soldaten waren da und fixierten Unruhestifter. In dem Chaos hörte ich, wie Thomas Newt etwas sagte wie „Bring sie weg. Ihr wisst, wie es weiter geht." Und mit diesen Worten führte Newt mich aus dem Speisesaal heraus, Richtung der Aufzüge.
Wir erreichten unser Zimmer im Laufschritt, ich mit von Tränen getrübtem Blick und halb selber laufend, halb auf Newt gestützt. Er nahm meine Karte und öffnete die Tür. Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich endgültig zusammenbrechen und Newt konnte mich nur noch auffangen und zu meinem Bett bringen.
Gallys Seite des Zimmers war vollkommen leer gefegt. Alles, was er besessen hatte war verschwunden, übrig blieb nur ein frisch bezogenes Bett, auf dem eine Tasche mit Sachen für Newt stand. Es war, als hätte Gally hier nie gewohnt, als hätte es ihn hier nie gegeben.
Wir saßen eine Weile schweigend da, bis ich mich etwas beruhigt hatte und wieder sprechen konnte.
„Das... Das ist doch unglaublich. Für sie sind wir doch einfach nur Gegenstände, Dinge, die sie zu ihren Zwecken brauchen. Sie haben ihn einfach ausgelöscht, als hätte er hier niemals gewohnt, als hätte es ihn so, wie er war, nie gegeben. Und morgen... morgen wird das auch fast so sein. Dann wird er vergessen haben, wer er war, wird sich vielleicht nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern, wird mich völlig vergessen haben. Er wird nicht wissen, dass er eine beste Freundin hatte. Er würde mich nicht erkennen, wenn er mich sehen würde. Ich werde eine Fremde für ihn sein." Bei diesen Worten musste ich wieder schluchzen.
Newt hielt mich fest in seinen Armen und ich spürte wieder dieses Gefühl von Geborgenheit, das mir völlig neu war. Ein Gefühl, von dem ich nicht einmal wusste, dass ich es in dieser verdammten scheiß Welt überhaupt spüren konnte. Ich verstand dieses Gefühl nicht, aber es fühlte sich gut an.
Er fühlte sich gut an.

„Hey, Anna, du musst aufwachen!"
Eine Stimme riss mich aus meinem Traum, in dem ich warm und geborgen in den Armen von diesem Jungen mit den wunderschönen braunen Augen gelegen hatte. Aber es war nur ein Traum, jetzt musste ich der Wirklichkeit wieder entgegen blicken.
Langsam öffnete ich in meine Augen und... blickte in genau diese braunen, von denen ich eben noch geträumt hatte. Und ich lag auch immer noch in seinen Armen. Mich durchzog ein Gefühl wie tausend flatternde Schmetterlinge. Was war nur los mit mir?
Doch da holte mich die Realität wieder ein.
Gally.
Ich richtete mich auf und Newt ließ mich los.
„Es ist soweit, Thomas wartet." Er fuhr sich durch seine wuscheligen Haare. „Ich... Ich wünsche dir viel Kraft", sagte er, als ich schon fast an der Tür war.
Doch da blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um.
„Bitte komm mit", flüsterte ich.
Viel zu leise, aber er hatte es trotzdem verstanden. Er stand von meinem Bett auf und kam auf mich zu. Behutsam nahm er meine Hand in seine und nickte mir aufmunternd zu.
„Ich bin bei dir."
Und damit öffnete ich leise die Tür.

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