2. Keine leichte Entscheidung

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Als ich Newt versorgt hatte und er wieder weggedämmert war, machte ich mich auf den Weg in Richtung Wohnbereich. Durch dieses riesige Gebäude dauerte es dorthin einige Minuten, in denen ich wieder zu grübeln begann. Was hatte mir diese Hoffnung gegeben? Ein fremder Junge, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt? Ich kannte ihn seit einer Stunde und hatte eben noch erfahren, dass ich Gally verlieren würde.
Gally würde mich vergessen. Der Gedanke daran war jetzt, wo ich alleine durch die steril-weißen Gänge lief wieder unerträglich. Was sollte ich nur ohne ihn machen? Auf einen Fremden aufpassen, mit ihm den ganzen Tag verbringen? Was war mit meinem Job bei den Kindern? Und warum wollte Janson, dass gerade ich mich um diesen Newt kümmerte? Waren Nicht-Immune für WICKED nicht eigentlich viel unwichtiger als die Immunen? Warum war ihnen dieser Kontrollproband so wichtig?
Und würde er in das gleiche Labyrinth kommen wie Gally? Ich wusste, dass es bei Minho so geplant war und gleichzeitig, dass ich nicht in eben dieses kommen sollte, wenn es bei mir soweit war. Thomas hatte es mir erzählt, vor einigen Monaten. Aber machte das überhaupt einen Unterschied, wenn ich mich eh nicht mehr an meine Freunde erinnern können würde, so wie sie sich auch nicht mehr an mich erinnern konnten? Alby, Nick, George und all die anderen. Und jetzt bald auch noch Gally. Mein Gally.
Mittlerweile hatte ich den Korridor erreicht, von dem unser Zimmer abging und wurde langsamer. War er schon da? Ich wusste nicht, wie spät es war.
Sollte ich es ihm sagen? Oder sollte ich damit noch warten? Würde er durchdrehen? Ich wusste es nicht.
Mit zitternder Hand öffnete ich die Tür mit meiner Karte und lugte hinein. Auf seinem Bett war er nicht. Ich atmete, froh darüber, geräuschvoll aus. Doch im Badezimmer brannte Licht und ich konnte Wasser laufen hören. Er war also doch da.
„Gally?", rief ich vorsichtig.
Keine Antwort.
Noch einmal: „Gally?"
Ich hörte es in der Dusche rumpeln, dann das Wasser ausgehen und nach ein paar Sekunden ging die Badezimmertür auf. Gally lugte heraus, ein Handtuch um die Hüfte gebunden. Er hatte einen blau angelaufenen Wangenknochen.
„Schon wieder geprügelt?", platzte es aus mir heraus und ich merkte, dass ich wie eine Mutter klang.
Gally lachte. „Heath der Blödmann war heute ziemlich langsam. Ich wollte vorankommen."
Ich verdrehte die Augen. Gally war einfach zu aufbrausend. Dennoch musste ich schmunzeln, als ich seinen Blick sah. Er arbeitete hier bei WICKED als Maschinenbauer, das hieß, er und ein paar andere Jungs bauten an kaputten Sachen herum und – wenn es klappte – reparierten sie.
Kurz hatte ich vergessen, was mich seit über einer Stunde beschäftigte, aber als Gally mit einem „Ich komme sofort, Kleine, warte" die Tür wieder schloss und ich mich auf mein Bett setzte, fiel mir alles wieder ein. Ich musste mich jetzt entscheiden, ob ich es ihm sagte oder nicht. Es auf morgen zu verschieben würde uns nur einen Streit bescheren, weil ich es ihm vorenthalten hatte. Und es ihm gar nicht zu sagen, würde bedeuten, dass wir uns nicht verabschieden konnten.
In diesem Moment geisterte mir ein Gedanke durch den Kopf. Und wenn ich Thomas darum bitte, mich verabschieden zu dürfen?
Vielleicht würde er es einrichten können. Ich entschied mich dazu, ihn gleich morgen beim Frühstück zu fragen. Das Abendessen hatte ich dank dem Neuankömmling verpasst, stellte ich jetzt fest, als ich auf den Wecker auf meinem Nachttisch blickte.
Gally kam nun endgültig aus dem Badezimmer, in kurzer Hose und einem ausgeblichenen Shirt. Er setzte sich mir gegenüber auf sein Bett und wir schauten uns eine Zeit lang an.
„Was gibt es, Kleine? Warum schaust du so bedrückt?" Er kannte mich viel zu gut.
„Ach, ich...", begann ich.
Komm schon, Anna, du hast dich entschieden! Jetzt reiß sich zusammen!
„Janson hat mich heute von den Kindern weggeholt. Er... Er hat mir einen neuen Probanden gezeigt, einen, der nicht immun ist. Der scheint irgendwie wichtig zu sein, ich soll mich ab jetzt um ihn kümmern."
Gally zog seine Augenbrauen hoch. „Nicht immun? Und was soll mit ihm passieren? Wie heißt er denn?"
„Sein Name ist Newt. Er soll ins Labyrinth. Nächsten Monat. Nach... dem nächsten der rein muss." Ich schluckte.
„Wie alt ist er? Weißt du, wer als nächstes hoch muss? Hoffentlich doch nicht Minho?", fragte Gally, nun schon etwas gleichgültiger, während er sich auf seinem Bett ausstreckte. Noch war es seins. Ich schauderte.
„Ich... Er dürfte so in unserem Alter sein."
„Und wer muss als nächstes hoch? Hat Janson das gesagt? Komm schon, jetzt mach doch nicht so ein Geheimnis daraus."
Mir wurde schwindelig. „Ich weiß es nicht", hauchte ich, während ich ihn anstarrte.
Er sah hoch, zog seine Augenbrauen abermals nach oben und runzelte die Stirn.
„Alles okay mit dir, Kleine?", fragte er besorgt, was sonst nicht seine Art war. Ich musste wohl ziemlich schlimm aussehen.
Jetzt musste ich mich wirklich zusammen reißen, damit ich nicht in Tränen ausbrach. Drei Tage, bis er ins Labyrinth musste. Zwei, bis er in die Gedächtniskammer käme. Zwei Tage, bis er mich vergessen hätte.
„Mir... mir ist nicht so gut, Gally, ich hab' Angst. Angst dich... euch zu verlieren", berichtigte ich mich schnell und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Schneller als ich gucken konnte war Gally auf den Beinen und neben mir. Er nahm mich in den Arm und ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr zurück halten. Ich sog seinen Geruch ein und krallte mich in sein T-Shirt.
„Schh, Kleine, alles wird gut. Sie werden mich schon nicht reinschicken. Und alles andere überstehen wir zusammen. Du weißt doch, du und ich gegen den Rest der Welt. Oder halt gegen die Cranks und WICKED."
Ich hörte, dass er bei dem letzten Satz schmunzeln musste. Irgendwie half mir das, mich ein wenig zu beruhigen, sodass ich mich etwas von ihm lösen konnte.
„Danke, Gally", flüsterte ich.
Ich ließ mich auf mein Bett sinken und er blieb bei mir liegen, seine Arme noch immer um mich gelegt. Wir redeten nicht und ich merkte, wie mich der Schlaf langsam einholte, auch wenn ich noch meine Arbeitskleidung anhatte.
Bevor ich einschlief hörte ich ihn noch flüstern: „Und wenn sie mich holen, ich würde dich nie vergessen. Auch wenn mir mein Name nie wieder einfallen würde, dich würde ich niemals vergessen. Vergiss das nie, Kleine."
Und er küsste mich auf die Wange, an der sich nun doch noch eine einzige Träne ihren Weg bahnte.

From The WICKED Start | A Maze Runner Story Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt