1. Der Fremde

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„Hast du schon die Betten frisch bezogen?"
Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken – sie gehörte meiner Kollegin, oder Mitgefangenen, oder wie auch immer man es nennen mochte. Ich richtete mich auf meinem Stuhl auf, auf dem ich bis eben noch verträumt gesessen hatte, während ich den spielenden Kindern zusah.
„Ja, habe ich. Und die Tische habe ich auch schon gedeckt", entgegnete ich.
„Sehr gut."
Rachel setzte sich neben mich und sah ebenfalls zu den 24 Kindern, die unbeschwert in dem hellen Raum spielten. 24 Kinder, mehr nicht. Die einzigen 24 Kinder zwischen 2 und 10 Jahren in der gesamten Schutzzone.
Ich zupfte an meinem weißen Kittel herum und sah an mir herunter. W.C.K.D. Das war alles, was auf der linken Seite des Kittels geschrieben stand. Auf der anderen war mein Namensschild befestigt. Anna. Ob irgendwann der Tag kommen würde, an dem auch ich mich nicht mehr an ihn erinnern können würde?
Auch Rachel trug einen solchen Kittel. Die Kinder hingegen trugen T-Shirts, an deren Rücken „Property of W.C.K.D" stand. Wie gut, dass sie keine Ahnung hatten, was das zu bedeuten hatte.
Es war nicht das erste Mal, dass ich darüber nachdachte. Ich tat das eigentlich jeden Tag, immer dann, wenn ich nicht gerade im Stress war. Und ich wusste, dass es Rachel genauso ging. Auch sie war alles andere als glücklich mit dem, was wir hier taten. Wie nannten sie es? Rettung der Menschheit, oder was davon übrig ist. Ein riesiger Prozentsatz bereits gestorben oder unberechenbar durch den „Brand" – ein Virus, das dich entweder tötete oder zu einem „Crank" machte. Keine Ahnung, was das kleinere Übel war.
Eigentlich durften wir überhaupt nicht darüber nachdenken oder gar Mitgefühl haben. Deshalb sprachen wir auch nie darüber, aber wir beide wussten, dass die andere genauso dachte. Und irgendwie tat das gut.
Diese Kinder würden nie ein normales Leben führen, genauso wie Rachel und ich es nie getan hatten. Als kleine Kinder von unseren Eltern an WICKED übergeben, mit der Intention uns zu retten, waren wir genauso aufgewachsen wie diese Kinder – beobachtet, eingesperrt und niemals frei.
An meine Eltern konnte ich mich fast gar nicht mehr erinnern, dafür war ich viel zu klein gewesen, als sie mich zu WICKED gebracht hatten. Und das war jetzt meine Welt. Im inneren eines Gebäudes, in dem ich selbst aufgewachsen war, andere Kinder beaufsichtigen, damit sie als Testobjekte verwendet werden konnten, um eine Menschheit zu retten, die längst verloren war.
Meine Nächte und das Bisschen freie Zeit, das ich hatte, verbrachte ich in einem Nebentrakt, wo ich mir ein Zimmer mit meinem besten Freund Gally teilte. Viel mehr Freunde hatte ich hier auch nicht, außer vielleicht Rachel, wobei diese den Kontakt zu mir außerhalb der Arbeitszeiten eher mied, da sie wusste, wie Gally WICKED gegenüber eingestellt war ohne ein Geheimnis darum zu machen. Wahrscheinlich hatte sie Angst, in irgendetwas mit reingezogen zu werden oder so – so wie ich schon viel zu oft. Außerdem hing sie die gesamte Zeit mit einem Jungen namens Aris herum, mit dem ich wiederum nicht viel zu tun hatte. Er war mir irgendwie unheimlich, weil er kaum mit den Leuten redete und auch sonst sonderbar war.
Dann gab es da noch Minho und Thomas, ersterer war ein Proband, so wie Gally und ich auch. Thomas hingegen war ein vollwertiger Mitarbeiter von WICKED. Zusammen mit Teresa, einem Mädchen, mit dem ich so gut wie noch nie gesprochen hatte, weil sie es nicht für nötig hielt, sich mit Normalsterblichen wie uns abzugeben, beobachtete er die Probanden im Labyrinth. Aber anders als sie stand er ganz bestimmt nicht hinter dem, was dort passierte.
Unsere Freunde, die, mit denen wir aufgewachsen waren, wurden dort hinein geschickt. Wir waren immun gegen dieses Virus, konnten keine Cranks werden, sagten sie. Irgendwann wären wir alle dran, um in eines dieser Labyrinthe zu kommen, bis dahin hatten wir hier unsere Aufgaben.
Ich wollte nicht in eines dieser Labyrinthe. Ich hatte vor nichts mehr Angst, als davor, eines Tages selbst geholt zu werden. Deshalb gab ich mir besonders viel Mühe in meinem Job, um vielleicht unentbehrlich zu werden – doch da machte ich mir wahrscheinlich falsche Hoffnungen.
Wenn es eins gab, wovor ich noch mehr Angst hatte, so war es, meine letzten beiden richtigen Freunde an das Labyrinth zu verlieren – Gally und Minho. Insgeheim wusste ich, dass ich nichts dagegen tun könnte, aber der Gedanke, gerade Gally zu verlieren, mit dem ich mein gesamtes Leben hier verbracht hatte, schmerzte so sehr, dass ich es nicht ertragen konnte.
„Faulenzt ihr etwa?", tönte eine barsche Stimme durch den Raum.
Alle, auch die Kinder, hielten sofort inne. Ein Mann mit angegrautem Haar und zwei Soldaten hatten den Raum betreten, ohne dass wir etwas bemerkt hatten.
Sofort war ich auf den Beinen. „Nein, Mr. Janson, Sir, wir haben auf das Essen gewartet. Wir haben uns nur kurz gesetzt."
„Soso", entgegnete er und sah mich von oben bis unten an. „Wie dem auch sei, ich möchte, dass Sie mit mir kommen, Anna, ich habe etwas mit Ihnen zu bereden."
Jetzt holen sie mich.
Das war alles, was mir durch den Kopf geisterte.
Sie holen mich und ich werde meine Freunde nie wieder sehen. Ich werde nicht einmal mehr wissen, dass es sie gibt.
Schweigend nickte ich Rachel zu, die mich mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen anstarrte, als sähe sie mich zum letzten Mal, und folgte Janson. Meine Gedanken überschlugen sich und alles, an was ich denken konnte war Gally. Er würde ohne mich nicht klarkommen, es würde keine Woche dauern und er würde sich eine Kugel einfangen, weil er sich unmöglich benahm.
Würde ich mich verabschieden können? Nick und Alby hatten es nicht getan und die beiden waren mir auch zwei gute Freunde gewesen.
Janson und die beiden maskierten Männer führten mich zum Aufzug und dann tief runter im Hauptgebäude. Ich fühlte mich immer unwohler, andererseits hatte ich immer gedacht, dass so eine Überführung anders ablief. Ich wusste, dass die Gedächtniskammern sich in einem anderen Gebäude befanden, denn dort waren auch die Überwachungsräume des Labyrinths und dort arbeitete Thomas.
Wo bringen sie mich hin?
Irgendwann schienen wir unser Ziel erreicht zu haben, denn nach einem endlosen weißen Gang bog Janson nach rechts ab und blieb vor einer Tür stehen. Er öffnete sie mit seinem Ausweis und ich folgte ihm unsicher herein. Darin bot sich mir der Anblick eines blonden Jungen, der entweder tot oder bewusstlos war.
„Was...?", begann ich.
Doch Janson unterbrach mich. „Was Sie hier sehen, ist unser neuester Proband. Geplantes Überführungsdatum ist nächste Woche Mittwoch in einem Monat. Vorher werden wir noch Ihren Zimmergenossen da hoch schicken. Ich bin froh, wenn er endlich weg ist, er hat uns schon viel zu oft Probleme bereitet. Sollen die da drinnen sich mit ihm herumschlagen. – Ich möchte, dass Sie sich um den hier kümmern, er könnte wichtig werden. Ist nicht immun, das ist verdammt selten in dem Alter. Den brauchen wir für Kontrollergebnisse, sie verstehen schon. Er wird bei Ihnen unterkommen, wenn der Andere weg ist. Kümmern Sie sich um ihn, alles andere wäre nicht von Vorteil für Sie."
Er sah mich erwartungsvoll an, aber ich konnte nichts sagen, konnte nicht einmal nicken. Ich stand einfach nur da und starrte ihn an.
Gally.
Sie würden mir Gally nehmen. Sie würden ihn mir wegnehmen und ihn in unserem Zimmer einfach durch einen anderen ersetzen.
Sie würden Gally holen. Und ich würde alles verlieren.
In diesem kurzen Moment, bevor Janson mich an den Schultern packte und zu schütteln begann, sah ich meine Vergangenheit an meinem geistigen Auge vorbei ziehen. Gally und ich dort, wo ich jetzt selber auf die Kinder aufpasste, Gally und ich beim Einzug in unser Zimmer, Gally und ich jeden Abend nebeneinander liegend, die Decke anstarrend und lachend, weinend oder einfach nur schweigend.
Mir rollte unbemerkt eine Träne die Wange herunter, als Janson mich grob schüttelte.
„...Anna, hören Sie mich? Ich will, dass Sie sich um diesen Jungen kümmern, sobald er wach ist, verstanden? Sie werden ihm für die nächsten 3 Tage ein Bett herrichten, danach wird er bei Ihnen wohnen, bis er übergeben wird, klar?"
„Ja, Mr. Janson, Sir", hauchte ich und wischte die Träne weg. „Ich werde mich natürlich um ihn kümmern, so wie Sie wollen."
Bei diesen Worten drehte Janson sich um und verließ den Raum mit den anderen beiden. Ich blieb zurück mit diesem bewusstlosen Jungen und stand einfach nur da. Ich konnte meinen Blick nicht von der Tür nehmen, durch die sie verschwunden waren.
Gally.
Ich würde ihn bald für immer verlieren. In drei Tagen. Drei Tage. Ich wusste nicht, wie ich das aushalten sollte. Egal wie aufbrausend und wild er war, er hatte immer auf mich aufgepasst, so wie ich auf ihn. Er war wie ein Bruder für mich. Und ich würde es nicht ertragen, ihn zu verlieren.
„Wo... Wo bin ich?"
Ich drehte mich langsam um. Der Junge auf der Liege war wach geworden. Er stützte sich auf seine Unterarme und sah mich mit verwuschelten Haaren an. Ich schüttelte meinen Kopf, um einen klaren Gedanken zu fassen. Er sah mich total verwirrt an und ich konnte nicht anders, als Mitleid mit ihm zu haben. Wo auch immer er her kam, es war bestimmt besser als hier. Hier würde er nie wieder frei sein.
Ich ging zu ihm hin und half ihm auf.
„Mein Name ist Anna und du bist hier im WICKED-Tower. Draußen geht die Welt unter, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie haben dich hergeholt, um vielleicht die Menschheit zu retten. Klingt verrückt, was? Wie heißt du?" Ich wollte versuchen, nett zu ihm zu sein. Er tat mir wirklich leid.
„Ich... Ich heiße Newt. Wo ist meine Schwester?"
Schwester? Von noch einer Nicht-Immunen hatte Janson nicht gesprochen. Also war sie garantiert immun und wie alle Immune, die erst als Jugendliche zu WICKED kamen, bereits weggesperrt. Darauf wartend, irgendwann auch ins Labyrinth zu kommen.
„Ich weiß es nicht. Aber sie ist sicherlich wohl auf. Mach dir keine Sorgen. Wie geht es dir, Newt?", versuchte ich ihn zu beruhigen.
„Ich weiß nicht, ich glaube gut. Ich bin müde und habe Kopfschmerzen. Als hätte mir jemand eine verpasst."
Gar nicht so abwegig.
„Du solltest dich hinlegen. Auf eine richtige Matratze. Komm."
Damit half ich ihm von der Pritsche und aus dem Raum, in einen anderen, in dem ein provisorisches Bett stand. Er lächelte mich dankbar an, als er sich darauf legte und ich mich neben ihn setzte.
Netter Junge, dachte ich, während ich ihm etwas Brot und Wasser reichte.
Während er aß beobachtete ich ihn und stellte fest, dass er gut aussah. Dachte man sich die tiefen Augenringe und das dreckige Gesicht weg, war er sogar richtig hübsch mit seinen blonden Haaren und den braunen Augen. Und wie ich ihn so betrachtete vergaß ich sogar kurz Gally.
Woher kommen diese Gedanken?
Ich wusste es nicht. Aber irgendetwas an diesem Jungen sagte mir, dass es so sein musste, wie es kam, dass unser Schicksal vorbestimmt war und wir, wenn wir ihm uns fügten, vielleicht doch eines Tages frei sein konnten. Irgendetwas an diesem Jungen veränderte etwas in mir. Etwas, das ich in meinem gesamten Leben noch nicht gespürte hatte, regte sich in mir.
Newt schenkte mir Hoffnung.

From The WICKED Start | A Maze Runner Story Where stories live. Discover now