Thursday, July 26th

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Dear Marley,

heute war ein wirklich seltsamer Tag. Und mit seltsam meine ich wirklich seltsam.

Seit Samstagabend habe ich weder Mum noch Dad wirklich gesehen. Nur mal im Vorbeigehen und dann ist es so wie immer. Kein Hallo, kein Auf Wiedersehen. Aber ehrlich? Mir solls recht sein. So muss ich nicht mit ihnen reden und mir auch nicht anhören, wie toll es in der Firma läuft.

Ich habe jeden Tag in meinem Zimmer verbracht, habe gelesen und auch gemalt. Nur so schaffe ich es, meine Gedanken für eine Zeit lang mal zum Schweigen zu bringen. Ich hoffe du hast nichts dagegen, dass ich mich an deinen Sachen bedient habe. Doch so habe ich das Gefühl, ein Stück von dir bei mir zu haben. Außerdem können Mum und Dad so nicht alles entsorgen.

Denn das war das Erste, was heute passiert ist. Ich habe mich schon gewundert, warum Mum nicht mit Dad aus dem Haus gegangen ist, wie jeden Morgen. Doch als sie dann mit einigen Männern in dein Zimmer gegangen ist und ihnen erklärt hat, dass alles weg könne, war mir klar was hier vorgeht.

Am liebsten wäre ich auf sie losgegangen, wollte sie anschreien, ihre Finger von deinen Sachen zu lassen. Doch ich habe gewartet. Gewartet, bis Mum gegangen war. Dann bin ich zu den Männern, die bereits dabei waren, Kartons aufzustellen und deine persönlichen Sachen dort hinein zu packen.

Ich muss ihnen ziemlich leidgetan habe, als ich sie unter Tränen angefleht habe, nicht alles mitzunehmen. Denn sie halfen mir, einiges zusammen zu packen und es in meinem Zimmer zu verstauen. So konnte ich wenigstens deine persönlichsten Sachen retten. Deine Bilder, deine Lieblingsbücher, deinen Malkram. Und auch einige deiner Klamotten.

Was ich selbstverständlich als erstes eingepackt habe, waren die Fotos. All die Aufnahmen von uns beiden, die Bilder von dir und Marcus. Ich habe sie alle in einen Schuhkarton gepackt und sie in meinem Schrank versteckt. Sobald du zurückkommst, warten sie hier auf dich.

Zum Glück hast du schon einen Großteil deiner Sachen bei Marcus. So musste ich nicht mehr viel retten. Und alles, was ich nicht in meinem Zimmer verstecken kann, haben die Männer eingepackt und mitgenommen. Mum war es egal, was sie damit machen. Und ehrlich, ich habe auch nicht gefragt. Ich will gar nicht wissen, ob alles einfach entsorgt wird...

Danach habe ich mich wieder in meinem Zimmer verkrochen. Obwohl ich einfach nur meine Ruhe haben wollte, hat das Treiben draußen auf der Straße meine Aufmerksamkeit erregt. Da waren zwei Umzugswagen und viele Menschen. Ja, wir bekommen tatsachlich neue Nachbarn. Die haben den ganzen Tag gegenüber gewerkelt, Kartons und ein paar Möbel reingetragen.

Ich habe also den restlichen Tag am Fenster gestanden und unsere neuen Nachbarn beobachtet. Dabei bin ich wohl nicht sehr subtil vorgegangen, denn nachdem die Umzugswagen weg waren, blieben nur drei Personen zurück. Darunter ein Mädchen mit unglaublichen roten Locken. Und sie war es auch, die mich beim Starren erwischt hat! Richtig peinlich. Sie hat mir lächelnd zugewunken. Und ich?

Tja, ich habe peinlich berührt die Vorhänge zugezogen und mich in meinem Bett verkochen. Du hättest dich vermutlich auf dem Boden gekugelt vor Lachen. Aber du kennst mich. Mein Gesicht hat die Farbe einer reifen Tomate angenommen und meine Wangen haben wie Feuer gebrannt. Doch das beste kam ja erst noch!

Denn nur fünf Minuten später klingelte es an der Haustüre. Ich hatte schon eine böse Vorahnung, doch als Mum dann nach mir gerufen hat, war es vorbei. Nachdem sie noch mal lauter gebrüllt hatte, bin ich nach unten gegangen und rate mal wer vor der Türe stand und mich ganz unschuldig angelächelt hat.

Annabeth. Das Mädchen mit den roten Locken.

Sie hat sich gleich vorgestellt, hat Mum im Hand umdrehen um den Finger gewickelt. Die hat mich dann praktisch aus dem Haus geschoben, um Annabeth ein wenig die Gegend zu zeigen. Das ich mich viel lieber wieder in meinem Bett verkrochen hätte war ihr vollkommen egal. Aber das ist ja eigentlich nichts Neues.

Zuerst gab es peinliches Schweigen. Doch ziemlich schnell hat sich herausgestellt, dass Annabeth wirklich nett ist. Sie ist genau so alt wie ich und ab Ende August wird sie mit mir zusammen ihr letztes High-School Jahr absolvieren. Ihr Vater ist unser neuer Geschichtslehrer. Die alte Schreckschraube Mrs. Dalton scheint also endlich das Handtuch geworfen zu haben.

Zusammen mit ihren Eltern und ihrem großen Bruder wohnt Annabeth jetzt also im Haus gegenüber. Und soll ich dir etwas verraten? Auch wenn ich dich schmerzlich vermisse und mir nichts sehnlicher wünsche, als endlich zu erfahren, wo du bist und ob es dir gut geht... Der kleine Ausflug mit Annabeth hat es erträglicher gemacht.

Sie hat mich mit ihrer aufgeweckten, fröhlichen Art abgelenkt, mich für einen Nachmittag fühlen lassen, als wäre alles in Ordnung. Auch wenn ich nicht viel geredet habe, so fühle ich mich doch so viel leichter. Annabeth hat mir viel von sich erzählt. Und alles habe ich aufgesogen, wie ein Schwamm.

Sie hat wenigstens für ein paar Stunden den Schmerz verklingen lassen, meine Gedanken zum Schweigen gebracht und die Leere in meinem Herzen gefüllt. Auch wenn ich eigentlich niemanden um mich haben möchte, hat der rote Wirbelwind es geschafft, sich in mein Herz zu schleichen. Vielleicht, aber nur vielleicht, kann sie mich davor bewahren, allein zu enden...

Doch was richtig seltsam war, war Mums Reaktion als ich wieder daheim war. Sie war plötzlich so nett, richtig fröhlich. Wollte wissen, wie es mit Annabeth war und was für Leute die neuen Nachbarn sind. Ich habe keine Ahnung, was auf einmal mit ihr los ist... Ich habe auch gar nicht weiter mit ihr gesprochen. Warum auch? Ihre Finger auf meinem Arm sind noch nicht ganz verblasst und erinnern mich jeden Tag daran, was für ein Mensch sie wirklich ist.

Wie du siehst, war der heutige Tag wirklich komisch...

Doch ein Gutes hatte der Tag. Ich bin wirklich müde. Richtig kaputt und ich hoffe, dass ich jetzt, wo ich meine Gedanken niedergeschrieben habe, ruhig schlafen kann.

Im Fenster gegenüber ist auch gerade das Licht ausgegangen. Von Annabeth weiß ich, dass es das Zimmer ihres Bruders Lincoln ist. Das wäre jetzt genau dein Ding. Der neue Nachbarsjunge, sein Zimmer direkt gegenüber von meinem.

Ich kann deine Stimme praktisch in meinem Kopf hören. „Der Beginn einer großen Liebesgeschichte!" Dein romantisches Herz würde wahrscheinlich gerade schon unsere Hochzeit planen und Namen für unsere Kinder aussuchen...

Doch du kennst mich. Das wird nie passieren. Das ist eher deine Geschichte, da bin ich mir sicher. Und ich hoffe wirklich, dass du die Möglichkeit dazu bekommst.

Ich bete dafür, dass es dir gut geht, wo auch immer du bist. Damit du deinen Marcus heiraten und ihm viele wunderhübsche Kinder schenken kannst. Hoffentlich bleiben die Alpträume aus und ich tanze stattdessen heute Nacht auf deiner Hochzeit...

Du fehlst mir Marley. So sehr...

Ich warte auf dich, du weißt, wo du mich findest. Und das wirst du. Du hast es mir versprochen. „Egal wo wir sind, ich werde dich immer finden kleine Mücke."

Also bitte, halte dich an das, was du versprochen hast.

Love, Hailey

(1176 Wörter; 03.07.18)

Dear Marley...Love, Hailey #icesplinters19Where stories live. Discover now