[2] Gehorche

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»Bist du es wirklich?«

Ein Schauer lief mir über den Rücken.

Ich bewegte mich kaum, als ob er mich so nicht bemerken würde. Weshalb sprach er diesen Namen aus, während seine Augen mich betrachteten? Wieso verglich er mich mit einem Mädchen, das eigentlich tot sein müsste? Die warme Flüssigkeit in meinen Augen glitt unbeabsichtigt meine Wange runter und tropfte ab.

»Wieso kommst du erst nach so langer Zeit?«, frage er mich monoton und leise, ohne jegliche Emotionen in seine Stimme.

Langsam schüttelte ich meinen Kopf und drückte mich gegen die Wand. Vorsichtig trat er einen Schritt nach vorn und kroch aus seinem schattigen Versteck, um sich im Ganzen zu zeigen.

Augenblicklich schweifte mein Blick nach rechts. Mein Körper fing an zu schmelzen, ich begriff nichts mehr. Mein Kopf war leer und ich wusste nicht, was ich denken sollte. Mein Kopf ging zwischen dem Bild und dem Jungen, der drauf abgebildet war und jetzt vor mir stand hin und her. Porzellane Haut, die leicht schimmerte, schwarze Haare und die braunen Augen. Die Augen, welche mich durch das Bild beobachtet hatten. Er sah keinen einzigen Tag gealtert aus. Meine Sorgen wurden mit jeder Sekunde größer und wickelten sich wie Seil um meinen Körper. Wo war Liam?

Und weshalb stand dieser Junge vor mir, wenn er doch längst tot sein musste?

Als ich sah, wie er einen Schritt auf mich zu setzte, gab ich schützend meine Arme vor meinem Körper. »Bitte, komm nicht näher.«, brachte ich kaum hörbar über die Kehle und war erleichtert, dass er meine Bitte nachkam und stehen blieb. Die Kälte nahm mittlerweile den ganzen Raum ein und ich fror. An jeder sichtbaren Stelle richteten sich meine Haare auf und mein ganzer Körper fühlte sich starr an. Anmutig blickte er drei Meter vor mir auf mich herab und zupfte kurz an seinem schwarzen Anzug, die ihm wie angegossen passte. »Lass mich einfach gehen.«, flüsterte ich und schaute ihn dabei nicht ganz an.

Ich traute mich nicht. Was wollte er mit mir machen?

Als er meine Wörter vernahm, kam er ein wenig näher und beobachtete, wie ich reagieren würde. Wie sollte ich auch reagieren? Meine Angst konnte ich kaum verbergen. Ich wusste nicht, was das alles bedeutete und was er von mir wollte. Nun konnte ich meinen Tränen nicht standhalten. »Komm nicht näher.«, schluchzte ich leicht und hoffte, dass er einfach verschwand. Das sollte nur eine verdammte Einbildung sein.

Panisch atmete ich tief ein und aus, als ich sah, dass er plötzlich vor mir stand und mich von oben betrachtete, obwohl er gerade noch wenige Meter vor mir stand. »Nein, nein. Wie-«

Langsam kniete er sich zu mir runter.

Dieses Mal ignorierte er meine Bitte und tat, was er wollte. Seine Augen durchbohrten mein Körper und erforschten jede einzelne Stelle. Seine Blicke trafen mich wie Messerstiche. Die Augen von ihm schwankten zwischen hell- und dunkelbraun, wechselten mit jedem Blick ihre Farben und zwangen mich, in diese reinzuschauen. Was war er? Und vor allem, was wollte er von mir? Nach gefühlten zwei Minuten der Stille, hob er seine Augenbrauen und schüttelte langsam den Kopf. »Du wirst doch nicht schreien. Oder?«

Meine Verwirrung konnte ich einfach nicht verbergen. Wie zum Teufel wusste er, dass ich schreien wollte? Ich biss mir schmerzhaft auf die Lippe, um nichts zu sagen, denn das hörte sich nach einer Bedrohung an. Jede Sekunde verging wie eine ganze Stunde, alles spielte wie in einer Zeitlupe ab und das vergrößerte meine Angst noch mehr. Vorsichtig hob er seine rechte Hand und kam damit immer näher zu mir. Es wurde immer eisiger, die Temperatur um mich herum sank mit seiner Nähe. Ich fühlte mich wie ein verängstigtes Tier, die bei jedem seiner Bewegung zuckte.

Dann - kam seine Berührung.

Der Frost verteilte sich rasch und nahm mit dem Zusammenstoß unserer Haut jede Stelle meines Körpers ein. Behutsam strich er mit seiner Handfläche über meine Wange. Reflexartig schlug ich seine Hand weg und wartete jeden Moment auf eine Reaktion. Das schien ihn aber nicht zu überraschen. Als die Berührung unserer Haut durchtrennt wurde, sog er all die Frost in mir wieder aus, als ob ich sie selbst mit meinen Augen sehen konnte, wie es in seiner Fingerspitze wieder verschwand.

You Can't EscapeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt