15. Kapitel: Drachenreiter

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Lydia

Eigentlich wollte ich mit Hicks über Viggo reden, aber Astrid geht dieses Mal vor. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie sonst nicht viele Leute hat, mit denen sie offen reden kann. „Astrid, warte!" Als sie sich umdreht erkenne ich, dass Tränen in ihren Augen stehen. „Lass mich!" Schleudert sie mir entgegen, dann dreht sie sich um und rennt den Weg zum Wald entlang. Für einen Moment bleibe ich wie erstarrt stehen, viel zu oft habe ich dieses Gesicht bereits gesehen.
Erst nach und nach kommt wieder Leben in mich. Alles dreht sich in meinem Kopf, Stimmen von früher mischen sich mit anderen Stimmen. Alles wird zu einem wirren Mischmasch, dass mir in den Ohren dröhnt. Dann fällt mir etwas ein, der Wald! Wenn ich Pech habe trifft sie ausgerechnet heute auf Lyra oder den Nachtschatten und in ihrem Zustand bringt sie sie noch um! Schneller als ich denken kann bin ich wieder in Bewegung. Endlich zahlt sich das jahrelange Training mal aus, ich bin nicht einmal außer Atem, als ich Astrid erreiche. Sie sitzt auf einem Baumstumpf und zeichnet Linien in den Sand. „Hast du schon einmal daran gedacht, dass drachentöten nicht alles ist?" Ich gehe neben ihr in die Hocke und lege eine Hand auf ihre Schulter. Wie von selbst nehmen ihre wirren Linien die Formen mehrer Drachen an. Vor meinem inneren Auge sehe ich einen Nadder, einen Zipper, einen Taifumerang und dann doch wieder einen Nadder. „Was soll das heißen?" Ihre Reaktion ist anders, als ich erwartet habe. Anstatt mich irgendwie anzufahren schaut sie mich einfach nur an. Das erste Mal spüre ich, dass sie bereits eine Bindung zu Drachen hat. „Drachen sind auch Lebewesen, sie haben das gleiche Recht zu leben wie wir." Ich schaue ihr tief in die Augen und sehe Trauer und Zweifel in ihnen aufblitzen. „Aber sie haben uns unseres genommen, als sie anfingen uns anzugreifen." Das ist interessant, normalerweise ist es anders herum, aber die Drachen hier scheinen generell aggressiver zu sein. „Bist du dir sicher, dass sie es waren, die diesen Kampf begannen?" Astrid zögert mit ihrer Antwort, sie weis es nicht. „Sie haben Hicks' Mutter getötet!" Versucht sie sich zu verteidigen. Doch ich weis, dass Hicks es trotzdem geschafft hat, ein Band zu ihnen zu schmieden. Es ist eigentlich so leicht! Aber immer diese sturen Wikinger, mit ihrer Rachsucht! „Aber dieses ewige Rache nehmen macht doch auch keinen Sinn! Glaub mir, ich habe schon gesehen was Trauer mit Menschen macht, aber Rache ist keine Lösung, weil sie nicht nur einen selbst sondern alle Leute, die einem Nahe stehen in Gefahr bringt." Astrid schweigt und schaut mich einfach nur an. Ich hohle einmal tief Luft und versuche meine Gedanken wieder zu ordnen. Langsam wird mir Bewusst, dass ich mich mit dieser Rede endgültig verraten habe, selbst der dümmste Wikinger würde jetzt verstehen, auf welcher Seite ich stehe. Fast rechne ich damit, dass Astrid aufsteht und ins Dorf rennt um mich zu verpetzen. Doch sie sitzt einfach nur da und schaut mir in die Augen. „Da steckt mehr dahinter, oder?" Das Unglaubliche ist passiert, jemand hat Lydia Stava, die beste Lügnerin ihrer Zeit, durchschaut.

Astrid

In Lydias Gesicht steht Unglauben geschrieben. Sie zögert kurz, erst dann beginnt sie zu sprechen: „Rache ist der Grund warum ich hier bin, also nicht, um Rache zu nehmen, sondern weil sich jemand an mir rächen will. Ich weis nicht warum, aber mein Adoptivbruder meint, dass ich ihm gefährlich werden könnte. Außerdem war er mal in mich verliebt und hat mir nie verziehen, dass ich seine Gefühle nicht erwidert habe." Sie seufzt und starrt einen Moment auf die Bäume. Erst als ihr Atem sich wieder beruhigt hat spricht sie weiter: „Jedenfalls ist es so, dass er jedem, der mich aufnimmt, alles mögliche androht. Ich will nicht, dass irgendjemand wegen mir leiden muss und deshalb bin ich dann gegangen." Die letzten Worte sagt sie mit klarer und ernster Stimme. Danach herrscht erst einmal Stille, bis ich nicht länger an mir halten kann: „Und wieso bist du dann hier? Ist es nicht so, dass du damit auch uns in Gefahr bringst?" Mir wird auf einmal ganz schlecht, vielleicht habe ich sie ja doch falsch eingeschätzt. Aber Lydia schüttelt den Kopf: „Ich habe euch doch erzählt, dass ich eine wichtige Regel gebrochen habe. Diese Regel lautet: Überquere niemals die Grenze! -Ich habe sie überquert, aber ich glaube nicht, dass Levis jemals das selbe tun wird." Wieder schweigen wir, doch dieses Mal ist es ein angenehmes, ruhiges Schweigen. Wir schweigen einvernehmlich und hängen beide unseren Gedanken nach. Meine Wut von vorher ist verraucht, ebenso wie die Trauer. Lydia hat es geschafft mich abzulenken und ich bin ihr dankbar dafür. Ich werde ihre Geheimnisse bewahren, das bin ich ihr schuldig. Wer hätte gedacht, dass ich mich dem Mädchen vom Strand einmal so verbunden fühlen würde.

Hicks

Ohnezahn schnaubt zur Begrüßung, läuft dann aber direkt zu dem Korb, in dem ich wie jeden Tag den Fisch transportiert habe. Ich lasse ihn fressen und kontrolliere derweil noch einmal die Schaltkonstruktion, soweit sieht alles gut aus. Jetzt muss ich es nur irgendwie schaffen, dass Ohnezahn mich auf seinem Rücken akzeptiert. Er hat seine Mahlzeit nun beendet und schaut mich misstrauisch an. Langsam gehe ich auf ihn zu und strecke meine Hand aus. Dieses Mal zögert er nicht, sondern drückt augenblicklich seine Schnauze dagegen. Dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe, er senkt seinen Kopf und lässt mich ohne Gegenwehr aufsteigen. Sobald ich auf den Sattel geklettert bin vergewissert er sich, dass ich auch wirklich sicher sitze, dann hebt er ab.

Die ersten drei Versuche sind Fehlschläge und enden jeweils mit einer Bruchlandung. Einmal landen wir auf einer Wiese, deren Gras Ohnezahn sehr zu gefallen scheint. Vorsichtshalber nehme ich eine Hand voll davon mit, da diese Sachen mir bis jetzt immer nützlich waren. Gegen Abend habe ich ein Gefühl für das fliegen entwickelt und bin etwas mutiger geworden. Unser letzter Flug für diesen Tag führt uns aufs Meer hinaus. Nun habe ich den endgültigen Rhythmus gefunden und weder Ohnezahn noch ich schlagen an einem Felsbrocken an. Es ist ein wenig so, als wären wir in unserem Handeln und Denken eine einzige Person. Fliegen ist ein unbeschreibliches Gefühl, eine Mischung aus Freiheit, diesem Kribbeln im Bauch, Risiko und noch etwas anderem, was ich nicht definieren kann. Trotzdem fühle ich mich auf dem Rücken meines Nachtschatten-Freundes so lebendig wie noch nie in meinem Leben. Ich habe mal von Leuten gehört, die immer das Risiko und die Gefahr suchen, um sich lebendig zu fühlen. Sie brauchen diese Erfahrungen um zu spüren, dass sie noch leben. Jetzt kann ich nachvollziehen, was sie meinen...
Das erste Mal in meinem Leben fällt es mir schwer, Ohnezahn allein im Wald zurück zu lassen. Mit jedem Schritt, den ich mich von ihm entferne, habe ich mehr Angst, ihm könne etwas zustoßen. Ich weis, dass es ihm genauso geht, es ist, als wären unsere Gedanken durch den Flug ein Stück weit mit einander verschmolzen.

Fünf Jahre Where stories live. Discover now