7. Kapitel: Drachen

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Astrid

Am Waldrand angekommen schnappt sich Lydia Pfeil und Bogen. Ich wundere mich noch, warum sie genau diese Waffe wählt. Doch als der erste Pfeil an mir vorbei zischt verstehe ich. Es ist ein wenig so, als wäre der Bogen mit ihr verwachsen. Ein Körperteil, von dem wir noch nicht wussten! Ein weiterer Pfeil schießt an mir vorbei und trifft einen mindestens zehn Meter entfernten Baumstamm. Der nächste verfehlt mich nur um Haaresbreite und holt sie aus der Trance, die sie auf dem Weg hierher befallen hat. „Bist du verletzt?" Fragt sie und kommt bestürzt auf mich zu. Ich bin so überrascht, dass ich erst meine Stimme wiederfinden muss. Diese Frau bringt mich echt aus der Fassung. „Nein, alles in Ordnung." Antworte ich ihr schließlich und bin stolz darauf, dass meine Stimme nicht mehr allzu wackelig klingt. „Wie hast du das gemacht?" Als Antwort auf meine Frage lächelt sie nur. „Jahrelange Übung und eine gute Lehrerin." In was hat sie eigentlich keine Übung? „Wenn man aus der Ferne schießt, kann man selbst nicht so leicht verwundert werden." Fügt sie erklärend hinzu, das ergibt tatsächlich Sinn. „Dann hast du bereits einige Drachen getötet?" Eigentlich ist das eine ganz normale Frage, denke ich, doch ich werde eines besseren belehrt. Von einem Moment zum Anderen wird Lydia's Gesicht hart. „Nein." Sagt sie mit Nachdruck. „Aber das ist doch sicher..." Weiter komme ich nicht, denn sie fällt ins Wort: „Das stimmt sicher, aber mein Volk lebt sehr abgeschieden, wir haben kaum mit Drachen zu tun." Langsam bin ich echt auf ihr Volk gespannt. „Es war also nie nötig..." Schlussfolgere ich, aber das ist noch nicht alles, was sie loswerden will. „Und selbst wenn, gibt es andere Möglichkeiten." Sie schaut mir fest in die Augen: „Ich würde niemals einen Drachen töten." Ihre Stimme lässt keinen Widerspruch zu und ihre Augen funkeln. Dann verändert sich ihre Haltung wieder und sie entspannt sich deutlich. „Zeig Mal was du drauf hast!" Meint sie und zeigt auf meine Axt.

Hicks

Als ich auf die Lichtung komme ist er bereits da. Sofort beschnuppert er meinen Korb, in dem ich den Fisch transportiert habe. Dann steckt er seine Schnauze hinein und beginnt den Fisch zu verzehren. Währenddessen setze ich mich auf einen Stein und beginne ihn in mein Notizbuch zu zeichnen. Das Licht fällt durch die Bäume und irgendwo plätschert ein Bach. Irgendwie ist alles sehr idyllisch. Das scheint er auch zu finden, denn anstatt wie sonst zu verschwinden, legt er sich einfach hin und schließt die Augen. Gedankenverloren starre ich auf seine Schuppen, die in der Sonne glänzen. Da fällt mir etwas ein: „Du brauchst unbedingt einen Namen." Als Antwort bekomme ich nur ein Gähnen. Interessant, er hat keine Zähne... „Wie wäre es mit Ohnezahn?" Ein Schnauben ist die Antwort.

Lydia

Lyra schnaubt zufrieden, als sie den Fisch in meiner Hand sieht. Es ist bereits früher Abend und ich muss mich beeilen, um noch rechtzeitig zum Abendessen zu kommen. Trotzdem habe ich es mir nicht nehmen lassen Lyra davor noch einen kleinen Besuch abzustatten. Länger käme ich auch garnicht ohne sie aus. Sie ist die einzige, die immer zu mir gehalten hat. Auf ihre Art und Weise und sie ist die einzige Konstante in meinem Leben. Es kitzelt an meinen Fingern, als sie den Fisch sanft aus meiner Hand schnappt. Ich schaue ihr zu, wie sie ihn genüsslich verspeist. Den ganzen Nachmittag habe ich mit Astrid verbracht. Sie ist eine echt gute Kämpferin, aber ihre Vorstellungen sind nicht sehr leicht zu verrücken. Es wird schwierig, sie zu überzeugen... Lyra schnaubt und ich lege meine Hand auf ihre Schnauze. Einen kurzen Moment ist alles so wie früher, bevor alles so kompliziert wurde. Bevor alles so wurde wie es heute ist. In diesem Moment bin ich nur im hier und jetzt und verschwende keinen Gedanken an die Zukunft. Auf dem Rückweg holen sie mich dann doch wieder ein. Ich denke daran, was Finn wohl zu dem Ganzen hier sagen würde. Ich vermisse ihn, auch wenn ich das nicht gerne zugebe. Ich weis jetzt, dass er immer nur wollte, dass ich glücklich bin. Ich denke, dass er meine Entscheidung respektiert hätte, wenn er sie noch erlebt hätte...
Hinter mir knackt es und im nächsten Moment tritt Hicks zwischen den Bäumen hervor auf den Hauptweg zum Dorf. Wir schauen uns kurz an, dann legen wir das letzte Stück gemeinsam zurück. Ich weis, dass ich ihm bald einiges zu erzählen habe. Doch im Moment ist es nur wichtig, dass wir rechtzeitig in die große Halle kommen.
Tatsächlich schaffen wir es, wenn auch etwas außer Atem, mit der Dämmerung die große Halle zu betreten. Die Anderen sitzen bereits an einem Tisch, der aber schon sehr voll ist. Ohne etwas zu sagen schnappt sich Hicks einen Teller und setzt sich an den Nachbartisch. Anscheinend ist er das schon gewohnt, aber richtig ist es trotzdem nicht. Kurz überlege ich, was ich tun soll, aber Astrid rutscht noch etwas zur Seite und macht Platz für mich. Ich setzte mich zu ihr, einfach weil es komisch kommen würde, wenn ich mich zu Hicks gesetzt hätte. Ich will ihm keine Probleme machen und bei uns im Dorf war die große Halle immer ein Ort des Klatsches und Tratsches. Das ist mir mehr als einmal zum Verhängnis geworden, bis ich gelernt habe, nach außen den Schein zu wahren. „Was sind das für Drachen, die du heute Morgen im Training erwähnt hast?" Fischbeins Stimme reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. Schnell packe ich sie zurück in die Ecke, die ich dafür vorgesehen habe. Dann schaue ich hoch und lächele: „Es gibt eine ganze Reihe von Drachen, die Schall zur Jagt nutzen. Einer der bekanntesten von ihnen ist einer, der viele Namen hat. Früher war er in dieser Welt sehr weit verbreitet, aber heute gibt es ihn nur noch auf einigen abgelegenen Inseln. Sein bekanntester Name ist wohl Todsinger." Erkläre ich und merke, wie nicht nur Fischbein die Ohren spitzt, in der ganzen Halle ist es ruhiger geworden und ich begegne nicht nur einem neugierigen Blick. Also setzte ich meine Erzählung fort: „Im Gegensatz zu den meisten anderen Drachen, die sich hauptsächlich von Fisch ernähren, frisst der Todsinger am liebsten andere Drachen. Dazu lockt er sie mit seinem Gesang, der für Drachen unwiderstehlich ist, an und schließt sie dann in eine Bernsteinartige Masse ein, die schnell hart wird. Denn eine weitere Besonderheit ist, dass er kein Feuer hat, nur eben diese Bernsteinmasse. Sobald sie hart ist gibt es kein entkommen mehr, die Drachen werden in ihr eingeschlossen und irgendwann gefressen." Ich schaue in die Runde, tatsächlich ist es auf einmal ganz still im Saal. Erst als sie merken, dass das das Ende meiner Geschichte war wird es langsam wieder lauter.

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