2 | stranger

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Seufzend zog er die Nadel aus seinem Zeigefinger und sah dem roten Tropfen beim Größerwerden zu.

Es musste schon weit nach Mitternacht sein, doch er saß immer noch direkt vor dem Schaufenster, weil da das Licht am besten war.

Wenn er sich zu schnell bewegte, wurde ihm klar, wie kalt es hier war, und dass er auf rauem Beton saß.

Immerhin sah der Raum sonst nicht mehr so leer aus.

Stattdessen lagen jetzt meterweise Stoff auf dem Boden, schwarz und weiß und silbern und gelb, ein paar Nadeln und Bänder irgendwo verteilt – wahrscheinlich würde er morgen früh auf sie treten.

Ein Windhauch, eine Brise, ein Atemzug; und alles fliegt.

Tanzt in Kreisen um das Licht, welches vom Stoff gedämpft wird, teils verdunkelt.

Kindliches Lachen, ermahnendes Zischen, trotzdem nur Lächeln.

Blitze und Leute, die seinen Namen rufen.

Oder nicht seinen Namen.

„Hallo? Alles klar?", hörte er wie durch Watte.

Nicht wie durch Watte – wie durch Glas, wurde ihm klar, als er von dem roten Tropfen, der sich langsam in einen Bach verwandelte, aufsah.

Draußen am Fenster stand eine junge Frau, die Hände hielt sie an die Scheibe, damit sie besser hindurchspähen konnte.

Wieso hatte sie ihn überhaupt gesehen?

Hier drinnen war kein Licht an, und das von draußen musste das Fenster eigentlich nahezu undurchsichtig machen.

Bevor er realisierte, dass er aufgestanden war, hatte er schon die Türklinke in der Hand, beschmierte sie mit Blut, aber das war egal.

„Bist du der Neue?", fragte sie, aber eigentlich wollte sie gar keine Antwort, also schwieg er.

„Der Laden, der hier vorher drin war, hat meiner Oma gehört", sagte sie.

Er nickte.

„Nähst du?", fragte sie und deutete auf seinen Finger, der immer noch rot war.

„Ja", sagte er, überrascht, dass seine Stimme nach all den schweigsamen Stunden noch funktionierte.

„Du brauchst nicht zufällig eine helfende Hand, die dir dabei hilft und außerdem den Laden schmeißt?", fragte sie und lachte. „Nee, alles gut. Ich habe das früher bei meiner Oma gemacht, und jetzt ... Naja, jetzt hat sie eben aufgehört, und irgendwie habe ich jetzt keinen Job mehr. Aber das war nur ein Scherz."

Jetzt nickte er nicht.

„Okay, schönen Abend noch, ja?", sagte sie und zog eine Haarsträhne hinter ihrem Ohr hervor, damit sie ihr Gesicht verbergen konnte.

Sie war ein wenig rot geworden.

Genau wie sein Finger.

„Morgen um Acht", sagte er leise, als sie sich schon weggedreht hatte.

Kurz blieb sie stehen.

Dann nickte sie und ging weiter, ohne sich umzudrehen, weil sie nicht wollte, dass er das breite Grinsen sah.

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