,,Guten Morgen mein Engel. Hast du gut geschlafen?" Mein Vater kam die Treppen hinuntergestürzt und küsste mich flüchtig auf die Stirn. Ich nickte stumm. Er schnappte sich ein Brötchen aus dem Brotkorb und seine Aktentasche neben dem Tisch. ,,Ich muss schnell ins Büro. Murphy hat sich krank gemeldet", erklärte er mir in Eile. ,,Sonntags?", fragte ich erstaunt. Mein Vater blieb kurz stehen und ließ seine Schultern hängen. ,,Ja, ich weiß, mein Schatz. Da sollte ich nicht arbeiten, sondern lieber bei dir und deiner Mutter sein, aber es ist quasi ein Notfall. Wir haben zurzeit viel Arbeit in der Kanzlei." Er wuschelte mir noch einmal schnell durch meine noch feuchten Haare und verließ dann das Haus. Stille breitete sich aus und ich hatte das Gefühl, dass ich ganz alleine war. Wenige Sekunden später hörte ich jedoch Wasser im Badezimmer laufen und vernahm den schrägen Gesang meiner Mum. Ein Lächeln huschte mir über das Gesicht und ich setzte mich an unseren großen Esstisch aus Glas und fing an mein Brötchen mit Nutella zu bestreichen und genüsslich hineinzubeißen.

Meinen Vater bekam ich tatsächlich nur sehr selten zu Gesicht. Neben den vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen war er auch noch Anwalt und deshalb fast jede Sekunde beschäftigt. Neuerdings sogar sonntags. Meine Mutter dagegen unternahm viel mit ihren Freundinnen und ich sah sie deshalb auch nicht so oft. Eigentlich ziemlich traurig, aber ich war damit ausgewachsen, deshalb war es für mich noch nicht mehr wirklich schlimm. Als meine Tasse leer war und mein Magen voll, räumte ich alles ab und schmiss mich auf die Couch, um eine Folge Keeping up with the Kardashian's anzuschauen. Ich fand es schon immer witzig, wie verwöhnt und egoistisch die ganze Familie war und sich über jede Kleinigkeit aufregte. Nach einer halben Stunde lief meine Mum frisch gestylt die Treppen hinunter und suchte nach etwas in ihrer Tasche. ,,Gehst du weg?", fragte ich neugierig. Meine Mum blickte auf und lächelte. ,,Ich treffe mich mit Susan und María. Wir gehen eine Kleinigkeit essen. Kommst du zurecht?" Ich nickte lächelnd und wünschte ihr viel Spaß. Mum traf sich oft mit Susan und María. Sie waren die Mütter von Grace und Rachel. Sie hatten früher als wir klein waren schon viel zusammen gemacht, deshalb waren Grace, Rachel und ich auch so gute Freunde geworden.

Den Rest des Sonntags verbrachte ich mit Serien schauen, lesen und zeichnen. Es tat mal wieder gut, etwas für sich zu tun. Brandon meldete sich nicht und auch die anderen ließen mich in Ruhe. Spät am Abend lag ich dann in meinem Bett und machte mir Gedanken über den morgigen Schultag. Ich wusste immer noch nicht, wie ich mich Brandon gegenüber verhalten sollte und wie ich den anderen erklären sollte, wie ich nach Hause gekommen war. Nachdem ich auf das Ergebnis gekommen war, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich den Tag Morgen überstehen sollte, ließ ich es einfach sein und schlief unruhig ein.

,,Hat Jemand von euch Brand heute schon gesehen?" Meine beiden Freundinnen schüttelten gleichzeitig den Kopf. Wir standen im Mädchenklo und schwänzten eine Stunde Physik bei Mr. Johnson. Er war neu an unserer Schule und würde sowieso nicht bemerken, dass wir fehlten. ,,Der kann auch was erleben, wenn er mir über den Weg läuft", schnaubte Rachel und verschränkte die Arme. ,,Wie geht es Tyler?", hakte ich nach und lehnte mich an den Rand des Waschbeckens an. Sofort wurden Rachels Gesichtszüge weicher und ihre Augen glasig.

,,Ich weiß es nicht. Seitdem er im Krankenhaus aufgewacht ist und erfahren hat, was genau passiert ist, redet er nicht mehr mit mir." ,,Wie bitte?" Ich zog scharf die Luft ein. ,,Du kannst doch überhaupt nichts dafür, dass Brandon so ausgerastet ist!" Grace seufzte und lief mit ihren hohen Schuhen auf und ab. ,,Hunter ist da Gott sei Dank ganz anders. Er redet noch mit mir und er hat auch erzählt, dass es Tyler besser geht." Ich sah Rachel an, wie die Erleichterung ihre Miene aufhellte. ,,Ich frage mich nur, warum er keine Anzeige gegen Brandon erstattet hat, wenn er ihn doch so sehr hasst", bemerkte ich. ,,Er hat eben doch ein gutes Herz." Ich vernahm ein erneutes Seufzen von Grace. ,,Dann könnte er aber genauso gut wieder mit dir reden." Ich warf ihr einen zornigen Blick zu, weil das wirklich nicht die richtigen Worte waren, denn Rachels Blick wurde wieder trüb und Tränen sammelten sich in ihren Augen.

,,Da hat sie Recht", schluchzte sie. Ich legte eine Hand auf Rachels Schulter und drückte sie. ,,Er wird schon bald wieder mit dir reden. Das war wahrscheinlich nur alles viel zu viel Drama für ihn." Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und deutete Grace, dass sie es mir nachahmen sollte. Sie verdrehte die Augen. ,,Ja bestimmt", murmelte sie nicht sehr überzeugend. ,,Wie bist du überhaupt an diesem Abend nach Hause gekommen?" Rachel blickte mich fragend an und auch Grace drehte sich zu mir. ,,Ja, das würde mich auch mal interessieren." Ich nahm die Hand von Rachels Schulter und überlegte intensiv, was ich jetzt sagen könnte. Vielleicht, dass mich meine Eltern abgeholt hatten? Nein, dass würden sie mir nie abkaufen.

,,Irgendein Typ von der Party hat mich mitgenommen. Ich hatte einen heftigen Streit mit Brandon und wollte einfach nur noch weg", sagte ich deshalb überzeugend. Eigentlich war das sogar die Wahrheit, nur dass ich nicht erwähnte, dass ich den Typ kannte. Zuerst schauten sie mich misstrauisch an, aber nickten dann schließlich. ,,Danke übrigens, dass du dazwischen gegangen bist und versucht hast Brandon aufzuhalten", sagte Rachel und lächelte mich dankbar an. ,,Ich hätte doch nicht zulassen können, dass er noch mehr Schaden anrichtet", gab ich zu. ,,Weshalb habt ihr euch überhaupt so schlimm gestritten?" Grace betrachtete sich im Spiegel und fuhr sich durch ihre langen, blonden Haare. ,,Er hat behauptet ich würde unsere Freundschaft in Frage stellen", erklärte ich und schilderte ihnen eine Kurzfassung von dem, was er sonst noch gesagt hatte.

,,Ich glaube er steht auf dich." Grace drehte sich zu mir und schaute mich mit ernsten Blick an. ,,Wie bitte?" Ich fing an lauthals zu lachen. ,,Das ist mein Ernst", beteuerte sie. Mein Lachen verstummte. ,,Brandon und ich sind seit der Kindheit befreundet. Uns verbindet reine Freundschaft." Ich stoß mich von dem Waschbecken ab und fing an, genauso wie Grace es vorhin getan hatte, auf und ab zu laufen. ,, Das denkst du vielleicht, aber überleg dir doch mal, wie er sich in den letzten Wochen verhalten hat. Ständig war er an deiner Seite und hat jeden Jungen aus dem Weg geräumt, der etwas mit dir zu tun haben wollte. Und jetzt behauptet er du hättest zu wenig Zeit für ihn", erklärte Rachel und gesellte sich zu mir, um mich zu beruhigen. Grace hob den Finger. ,,Ein eindeutiger Fall von Eifersucht." Ich schüttelte heftig den Kopf. ,,Ihr seid doch total verrückt." Die Schulglocke läutete und zwei Mädchen betraten die Toilette. Grace, Rachel und ich tauschten Blicke vielsagende aus und verließen gleichzeitig das Mädchenklo.

Sam, einer von Dave's Kumpels und in unserem Physik-Kurs, lief uns entgegen und blieb kurz stehen. ,,Habt ihr die ganze Stunde auf der Toilette gekifft oder was?", lachte er. ,,Halt die Klappe und lauf weiter, Vollidiot", giftete Grace zurück. Er zuckte mit den Schultern und machte sich aus dem Staub. Während Grace sich über die Jungs in unserer Stufe aufregte und Rachel die ganze Zeit die Augen verdrehte, bemerkte ich am anderen Ende des Flures die Umrisse einer Person, die mir nur allzu bekannt vorkam. Brandon kam mit den Schultern hochgezogen und dem Kopf hängend direkt auf uns zugelaufen und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich stupste Grace und Rachel an. Beide verstummten und drehten sich in meine Richtung. Ich spürte, wie sich alles in mir anspannte und mein Atem immer flacher wurde. Rachel schnaubte zornig und lief, bevor wir sie aufhalten konnten, mit schnellen Schritten Brandon entgegen.

,,Na, wen haben wir denn hier?", rief sie ihm zu. Brandon hob den Kopf und bemerkte zuerst Rachel, dann Grace und schließlich mich. Sein Blick verharrte verharrte am längsten auf mir. Ich konnte nichts in seinen Augen erkennen. Keine Wut, keine Trauer, nicht einmal Schuldgefühle konnte ich sehen. In seinen Augen lag pure Leere und das jagte mir eine schreckliche Angst ein. Rachel war mittlerweile bei Brandon angekommen und stand nur wenige Zentimeter vor ihm.

Das würde lustig werden.

Perdition - VerderbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt