37.

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Mira

Von dem aufgelösten und völlig fertigen Kyle ist zwei Tage später nichts mehr zu sehen. Ganz im Gegenteil, er wirkt befreiter und lockerer als je zuvor.

Gerade sitzen wir mit Matt, Isaac und Clara in der Mensa und unterhalten uns über Gott und die Welt. Ab und zu wird gelacht, wenn Matt wieder einen seine bescheuerten Witze reißt oder Kyle sich über Kleinigkeiten aufregt. So ist er eben.

Gerade in diesem Augenblick dreht er den Kopf zur Seite und schaut mir geradewegs in die Augen. »Sag mir Bescheid, wenn du mit deiner Musterung fertig bist«, flüstert er und beugt sich dazu näher zu mir heran. Seine Hand legt er besitzergreifend auf meinen Oberschenkel, was unmittelbar starke Stromstöße hindurch jagt. Anscheinend hat meine Reaktion mich verraten, denn er lächelnd wissend und zwinkert mir mit einem Auge zu.

»Was sagst du dazu, Mira?« Erschrocken sehe ich zu Clara und bemerke, dass mich alle anwesenden aufmerksam mustern. »Na zur Party dieses Wochenende«, hilft sie mir auf die Sprünge, da ich mit meiner Antwort wohl zu lange hab warten lassen.

Bevor ich auch nur irgendetwas sagen kann, kommt Kyle mir zuvor. »Für Mira und mich gibt es keine Party«, sagt er total lässig und nimmt einen Schluck seiner Cola. Seine linke Hand liegt nach wie vor auf meinem Oberschenkel. »Wir haben andere Pläne.«

»Ihr habt andere Pläne?«, ruft Clara schrill, was Isaac neben ihr dazu bringt, sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zuzuhalten.


»Na danke auch!«, meckert er und sieht Kyle und mich böse an. »Dank eurem Rumgefummle habe ich jetzt einen Tinnitus.«


»Rumgefummle? Ihr beide?« Léon steht plötzlich hinter mir und mustert erst mich, dann Kyle. Dann die Hand auf meinem Oberschenkel. Bilde ich mir das nur ein, oder packt Kyle jetzt noch fester zu?


»Hey Léon«, rufe ich etwas euphorischer als beabsichtigt. Ich habe noch nicht mit ihm geredet, über das was Kyle mir anvertraut hat. Und ehrlich gesagt finde ich es auch ziemlich unfair von Léon, dass er Kyle die ganze Schuld des Unfalls und den damit verbundenen Folgen gibt. Ich muss unbedingt wissen, wie er über das ganze denkt. Zumindest seine Reaktionen bis jetzt, wenn wir irgendwie auf das Thema Kyle kamen, wirkten nicht gerade positiv.

»Ich wollte dich abholen, dachte wir gehen zusammen in die Bibliothek.« Er schaut mir stur ins Gesicht, ohne Kyle und die anderen weiterhin zu beachten.


»Klar, das können wir gerne machen.« Ich bin dabei meine Tasche hochzunehmen, als Kyle's Finger sich in meine Haut bohren.


»Ich hab dich doch um was gebeten«, knurrt er zwischen zusammengebissenen Zähnen und ins einen Augen blitzt es gefährlich.
Schon klar, er denkt schlecht über Léon und meint, dass er kein guter Umgang für mich wäre. Aber hat Léon nicht die ganze Zeit über das Gegenteil bewiesen? Immerhin hat er nie etwas von dem Unfall erzählt und immer gesagt, dass Kyle mir das alles lieber selbst sagen solle. Er wollte, dass er es mir erzählt, damit Kyle die Chance hat mir offen und ehrlich seine Sichtweise zu offenbaren. Sollte man ihm das nicht hoch anrechnen.

»Die nächste Prüfung ist wichtig«, antworte ich Kyle und schiebe seine Hand von meinem Bein. Léon und ich sind gute Lernpartner, das lasse ich nicht sausen.« Weshalb muss ich mich überhaupt vor Kyle rechtfertigen? Ich meine wir sind schließlich kein Paar oder so.

»Na schön.« Kyle wirkt sichtlich angefressen, als er mich aufstehen lässt und schließlich die Arme vor der Brust verschränkt. Kopfschüttelnd erhebe ich mich und schultere meine Tasche. Was für ein Theater.

***

»Léon?«, beginne ich irgendwann vorsichtig, als wir eine Weile lang nebeneinander gesessen haben und so getan haben, als würden wir uns tatsächlich aufs lernen konzentrieren. Ich habe die ganze Zeit über bemerkt, dass er genauso unruhig ist wie ich.

»Kyle hat es dir erzählt, nicht?« Er schaut nicht von seinem Buch auf, presst stattdessen die Lippen zu einem feinen Strich zusammen. Als ich zustimme schnalzt er mit der Zunge und sieht mich schließlich an. »Dann bin ich hier fertig«, sagt er tonlos und ohne Emotionen.


»Was... was meinst du denn damit?«

Ich sehe ihm dabei zu, wie er wütend seine Bücher und Hefter zusammenklappt und alles in seiner Tasche verstaut. »Ich bin wirklich nicht daran interessiert mit jemandem befreundet zu sein, der es toleriert, dass ein Typ namens Kyle seinem besten Freund die Freundin ausspannt und sie als kleinen Bonus auch noch dazu treibt, dass sie sich umbringt.«

Ich schlucke. »So war das doch gar nicht, Léon.« Ich versuche nach seinem Arm zu greifen, doch er ist schon längst aufgestanden und blickt von oben auf mich runter. »Kyle wusste nicht, dass Amber mehr von ihm wollte und -«

»Lass mich raten!«; er unterbricht mich, legt sich nachdenklich einen Finger auf die Unterlippe und tut so, als müsse er über irgendetwas nachdenken. »Er hat weder erwähnt, dass er sie gevögelt hat noch, dass er ihr auf offener Straße das Herz mit Absicht gebrochen hat.«

Ich schlucke. »Was redest du denn da?«

»Das, liebe Mira, ist die Wahrheit.« Er beugt sich zu mir herunter und sieht mir starr in die Augen. »Er hat sie gevögelt, wollte es mir aber verheimlichen. Nur Amber wollte da nicht mitmachen, sie wollte sich von mir trennen und Kyle wie ein Hündchen hinterher laufen. Er hat sie nie über seine Absichten aufgeklärt, hat riskiert, dass sie sich Hoffnung auf etwas ernstes macht. Er hat sie in den Selbstmord getrieben. Und das mit voller Absicht.«

HOLD ME TIGHT - abgeschlossenWhere stories live. Discover now