35.

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»Kyle? Wer ist das?«, krächzt die Stimme der braunhaarigen Schönheit durch den Raum. Schnell zieht die ihre Bettdecke über ihren Körper und versucht es zu verstecken, aber ich habe es schon längst bemerkt.

»Das ist Mira«, erklärt Kyle und zieht mich noch ein Stück näher ins Zimmer. Meine Hand lässt er noch immer nicht los. »Ich habe dir von ihr erzählt, weißt du noch?«

Sie legt den Kopf schief, als würde sie überlegen. Doch dann senkt sie traurig den Kopf. »Nein, weiß ich nicht«, flüstert sie leise.

»Später fällt es dir wieder ein.« Kyle's Worte klingen, als hätte er sie schon viel zu oft sagen müssen. »Das ist Kimberly, meine Stiefschwester«, wendet er sich schließlich wieder an mich. Er lässt meine Hand sofort wieder los und ich nutze die Chance, um die Arme vor meinem Körper zu verschränken. Auf einmal ist mir nämlich unheimlich kalt, was mit Sicherheit an diesem Raum liegt.

Die Wände sind weiß, wie unten im Eingangsbereich. Es steht nichts im Zimmer außer einem Bett und einem Medizinschrank. Sonst nichts. Absolut gar nichts. Nicht mal Vorhänge vor dem Fenster. Und mittendrin sitzt Kimberly und kommt mir plötzlich unglaublich verloren vor. »Hi... hi«, bringe ich irgendwie stotternd hervor und hebe die Hand. »Ich habe schon viel von dir gehört.« Was ich natürlich nicht habe, aber sagt man das nicht immer, um irgendwie ins Gespräch zu kommen?

»Ich wünschte ich könnte das gleiche sagen.« Sie lächelt traurig und wischt sich ihre Haare aus dem Gesicht. Dabei fällt mein Blick auf ihr Handgelenk und mir stockt erneut der Atem. Ein weißes Verband befindet sich direkt darüber. »Aber dass ich mal eine Freundin von Kyle kennenlernen darf, lässt mich darauf schließen, dass du ganz nett sein musst.« Jetzt kann sie ein strahlendes Lächeln nicht zurück halten und mustert erst Kyle und dann mich. Beim Blick fällt auf ihr Bettgestell, an dem eigenartige Gurte hängen und ich schlucke. Wird sie daran etwa festgebunden? Wo zum Teufel bin ich hier gelandet?

»Hast du Hunger?«, fragt Kyle und tritt näher an sie heran. Er mustert sie wachsam, damit ihm auch bloß nichts geschieht.

Kimberly rollt mit den Augen. »Ich habe keinen Hunger. Mach dir keine Sorgen, großer Bruder. Es ist überstanden.« Sie versucht Kyle aufzubauen, das erkennt man daran, wie sie ihm aufmunternd über den Arm streicht und ihn entschuldigend anlächelt.

Und plötzlich komme ich mir idiotischer vor als jemals zuvor. Wie konnte ich denn nur eine Sekunde dem Gerede der anderen glauben und davon ausgehen, dass die beiden... Oh Gott, ich schäme mich so.

Selbst ein Blinder würde diese bedingungslose Geschwisterliebe zwischen den beiden sehen und spüren können.

»Ich muss Mira nach Hause bringen, Mum ist in ihrem Büro.« Er scannt noch einmal ihr Gesicht, als könne ihr jeden Augenblick etwas passieren, doch sie lächelt einfach wieder. Und ich weiß was sie versucht; sie will nicht, dass Kyle sich weiterhin Sorgen macht und versucht die Starke zu spielen. Aber was auch immer es ist, es muss schrecklich sein.

Kyle wendet sich schließlich von ihr ab und nimmt wieder meine Hand. »Hey, Mira!«, werden wir von Kimberly aufgehalten, als er mich gerade zur Tür heraus schleifen will. »Du musst unbedingt nochmal herkommen. Wenn mein beziehungsunfähiger Bruder schon mal ein Mädchen nach Hause bringt, musst du ja etwas ganz besonderes sein.« Ihr Strahlen ist vermutlich heller als das einer Glühbrine.

Ich runzle die Stirn, tue aber so als würde ich verstehen. »Natürlich, das werde ich machen.« Ehrlich gesagt will ich gerade nur noch aus diesem schrecklichen Zimmer heraus und eine Erklärung für all das hier bekommen.

Wir flüchten praktisch die Treppe nach unten, wobei Kyle kein Wort verliert und stattdessen weiter meine Hand hält. Auch als wir Matt unten im Eingangsbereich erreichen und dieser sich aufrichtet, hält er sie weiterhin.

»Wie geht's ihr?«, fragt dieser sofort und schaut nach oben zum Treppenaufsatz. »Hatte sie nochmal -«

»Ihr geht es gut. Ich muss kurz nochmal zu meiner Mum. Bring Mira ins Auto.« Er lässt mich los und dreht sich zu mir. Das erste Mal seit dem wir das Zimmer betreten haben schaut er mir direkt in die Augen. Mit so einer Intensität, dass ich fast wegschauen muss. »Ich bin sofort wieder da.«

Ich nicke wie erstarrt und nehme es kommentarlos zur Kenntnis. Dann marschiere ich Matt hinterher, bis wir im Auto angekommen sind. Er nimmt auf dem Beifahrersitz platz und ich auf der Rückbank.

»Was ist mit ihr?«, platze ich schließlich irgendwann heraus, weil ich diese Stille nicht mehr aushalte. Sie erinnert mich viel zu sehr an den kahlen, kalten Raum, in dem sich Kimberly befindet.

»Das lässt du dir am besten von Kyle erklären.« Matt rutscht auf seinem Sitz hin und her, als wäre ihm diese ganze Sache hier ebenfalls ziemlich unangenehm. »Wahrscheinlich wird er mich töten, wenn ich dir auch nur ein klitzekleines Wort erzähle.«

»Warum hat er mich mit hierher genommen?«, frage ich stattdessen in der Hoffnung, wenigstens darauf eine klare Antwort zu bekommen. Zumal er vor nicht allzu langer Zeit noch verlangt hat, ich solle mich aus seinen Familienangelegenheiten heraushalten. Und jetzt nimmt er mich mit in sein vermeidliches Elternhaus und stellt mich seiner wohl kranken Stiefschwester vor.

»Das ist eine Frage, die ich nun wirklich nicht beantworten kann. Selbst wenn ich es wollen würde.« Er dreht sich auf dem Sitz zu mir um und mustert mich aufmerksam. »Läuft was zwischen euch?« Wahrscheinlich verrät mich die Röte in meinen Wangen, die urplötzlich hochsteigt, denn Matt schnalzt mit der Zunge und schüttelt den Kopf. »Sei vorsichtig, Mira«, mahnt er und sieht mir mit ernstem Blick in die Augen. »Kyle hat einiges durchgemacht, er ist schwierig. Spiel nicht mit de Feuer.«

»Ich habe nicht vor -« Ich werde unterbrochen, als Kyle die Tür aufreißt und auf den Fahrersitz rutscht.

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»Ich muss mit dir reden.« Nachdem wir Matt zu Hause abgeliefert haben, dreht Kyle sich zu mir um.

»Ich weiß.« Meine Finger kneten unruhig meine Handflächen und ich weiche seinem Blick aus.

»Zu mir oder zu dir?« Jetzt schnellt mein Blick doch wieder nach vorne, doch erhebt sofort entschuldigend die Hände. »Tut mir leid, unglückliche Wortwahl. Ich meine ob es dir lieber ist, wenn wir bei dir reden oder wir zu mir fahren sollen.«

»Zu mir.« Ich weiß, ich antworte nicht wirklich ausführlich, aber dazu fehlen mir im Moment auch wirklich die Gedanken. In meinem Kopf erscheint immer wieder das Bild von Kimberly, wie sie auf dem Bett saß, mit Fesseln an den Seiten des Gestells und Verbänden am Handgelenk.

Kyle seufzt. »Schade. Die Tatsache, dass du nicht hättest weglaufen können, hätte mich irgendwie beruhigt.«


HOLD ME TIGHT - abgeschlossenWhere stories live. Discover now