22.

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„Verdammt, nein!"

Ich reiße die Augen auf, als ich von einem lauten Schrei geweckt werde.
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es erst halb sechs am Morgen ist. Wenn man bedenkt, dass wir erst gegen drei Uhr das Verbindungshaus erreicht haben, habe ich doch erstaunlich wenig geschlafen.

„Hör auf! Hör auf, bitte!" Kyle wirft sich auf dem Boden hin und her, seine Schreie dringen tief aus seiner Kehle.

„Kyle!", rufe ich. Keine Reaktion. Durch das schwach hell werdende Tageslicht sehe ich, wie seine Brust sich heftig hebt und senkt.

Wieder ein Stöhnen von ihm.

Schnell trete ich die Decke zur Seite und rutsche zu ihm auf den Boden.

„Kyle, he!"
Sacht lege ich meine Hände auf seine Schultern und rüttle einmal kräftig an ihm. „Kyle, wach auf! Du hast einen Albtraum!"

Plötzlich reißt er seine Augen auf und ist schon im Begriff mich von sich zu stoßen, als er schließlich realisiert, dass ich es bin. Sofort nimmt er die Hände weg und legt sie über sein Gesicht.

„Oh verdammt, es tut mir leid!"

Ich schüttle den Kopf. „Muss es nicht. Es war ja nur ein Traum."

Er lacht bitter. „So viel also zum Thema die scheiß Pillen würden helfen. Einen Scheiß tun sie!"

„Was für Pillen?" Erstaunt schaue ich mich um, kann aber keine entdecken. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass ich gesehen habe, wie er welche zu sich genommen hat.

„Leg dich wieder schlafen." Er versucht die Decke über seinen nackten Oberkörper zu legen, aber ich sitze auf ihr drauf. Irgendwie muss er sie im Wahn von sich getreten haben.

„Was für Pillen, Kyle?", beharre ich weiter auf meine Frage.

„Du bist nicht meine verdammte Therapeutin, also leg dich gefälligst wieder ins Bett!"

„Du besuchst eine Psychologin?" Jetzt bin ich wirklich schockiert. Träume etwa ich gerade?

„Du sollst dich wieder hinlegen."

Ich bin es leid, andauernd mit den vielen Persönlichkeiten von ihm klarzukommen und mich immer wieder auf einen nächsten, urplötzlich kommenden Schlag gefasst machen zu müssen.

Deshalb tue ich auch das einzig Vernünftige und bleibe an Ort und Stelle sitzen.

„Was ist? Willst du da Wurzeln schlagen? Dann nehme ich gerne Vorlieb mit dem Bett."

Ich ziehe nur meine Augenbraue nach oben und sehe ihn weiter an.

Ich weiß nicht, wie lange wir uns dieses Blickduell liefern. Aber irgendwann wirkt er genervt und atmet tief durch.

„Na schön!" Er rollt mit den Augen und setzt sich schließlich auf. Natürlich komme ich nicht drumherum seine Muskeln bei jeder seiner Bewegung zu bewundern. Aber das ist jetzt wirklich, wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für sowas. „Ja, ich besuche ab und zu eine Therapeutin und ja, ich nehme Beruhigungstabletten."

„Beruhigungs-"

„Damit ich ohne Träume schlafen kann."

Ich schlucke. „Was passiert denn in deinen Träumen? Ich meine, wenn du sogar Tabletten zur Beruhigung brauchst, was ist dann-"

„Das reicht jetzt! Genug Fragen gestellt für einen Tag. Jetzt leg dich zurück ins Bett und lass uns beide unseren Schlaf nachholen."

„Hat dein blaues Auge etwas damit zu tun?", frage ich. Ich kann nicht anders. Ich will wissen, was mit ihm los ist.

„Mira." Er fährt sich völlig fertig durchs Haar und lässt die Hände dann wieder auf seinen Schoß fallen. „Leg dich einfach schlafen. Bitte stell keine Fragen mehr. Bitte!"

Wahrscheinlich hätte ich ihn noch weiter ausgefragt, wäre da nicht noch das letzte flehende Bitte gewesen.

„Okay, tut mir leid. Ich wollte mich nicht aufdrängen."

Ich wische mir meine feuchten Hände an meinem Shirt ab und richte mich dann schließlich auf, um zurück auf's Bett zu klettern.

„Vielleicht hättest du nicht einen solcher Träume gehabt, wenn du nicht auf dem Boden schlafen würdest."

Er lacht leise. „Na sicher. Schön wär's."

„Nein, ich meine es ernst. Komm einfach ins Bett."

Ein paar Sekunden ist es mucksmäuschenstill, ehe er sich räuspert und leise fragt: „Meinst du das ernst?"

Ich kann es selbst kaum fassen, aber ja. „Ich denke, wir sind alt genug. Solange du unter deiner eigenen Decke bleibst, geht das in Ordnung."

„Na schön." Ich höre wie die Decke laut zu rascheln beginnt und dann senkt sich auch schon die Matratze neben mir. „Ich kann natürlich für nichts garantieren, bei dem Gedanken daran, dass du nichts weiter trägst als mein Shirt, aber ich gebe mein Bestes."

Ich rolle mit den Augen. Da ist er also wieder. Der alte Kyle.

„Dass du keinen BH trägst, ist mir übrigens auch sofort aufgefallen", raunt er.

„Letzte Chance, oder du wanderst zurück auf den Boden!" Oh man, hoffentlich bemerkt er nicht, wie nervös und unruhig ich gerade bin. „Gute Nacht, Kyle."

„Gute Nacht... Mira."

Ich kann ganz leicht seinen Atem auf meinem Nacken spüren.

Verdammt, ist er mir wirklich so nah? Ich habe noch nie zuvor mit jemandem zusammen in einem Bett geschlafen, nicht einmal mit Chris.

Und jetzt liege ich hier mit ihm. Kyle King, der Geheimnisse hat.

Der sich prügelt, Veilchen davon trägt, Tabletten nimmt, Albträume hat und eine Psychologin besucht.
Und trotzdem ist er die einzige Person, die das erste Mal seit dem Tod meiner Mum richtig zu mir gehalten hat und für mich da war, als ich mich nicht unter Kontrolle hatte und alles verloren habe.

„Glaub mir", beginnt er plötzlich hinter mir zu sprechen, was mich sofort zusammenzucken lässt.

Verdammt, hoffentlich bemerkt er meine Unsicherheit nicht!

„Auch für mich ist es das erste Mal, dass ich mit einem Mädchen in meinem Bett schlafe. Also, ich meine das Einschlafen und gemeinsame Aufwachen."

„Dass du nur vom wirklichen schlafen redest, war absehbar."

Dann ist es wieder still.

Und kurz bevor ich endgültig wieder ins Land der Träume gleite, meine ich eine kurze Berührung an meinem Arm gespürt zu haben.




Der Morgen danach, oder sagen wir wohl eher der Mittag danach, lief ein wenig angespannt ab.

Nachdem ich Kyle gefühlte achtzig Mal schwören musste, dass er keinen weiteren Albtraum hatte, wirkte er ziemlich erleichtert und war gleich Feuer und Flamme dafür, dass wir erstmal richtigen Kaffee verdient hatten. Und ehe ich mich versah, saßen wir auch schon in einem Café, aßen Donuts und tranken unseren Kaffee.

Dass ich mich unglaublich wohl in seiner Gegenwart fühle, wird mir erst bewusst, als er mich am Wohnheim abliefert und ich nun alleine in meinem kleinen Zimmer sitze.

Und dann noch das mit Chris...

Irgendwie kommt es mir wirklich vor, als wäre das alles gar nicht real. Es ist einfach viel zu viel passiert.

Doch komischerweise belastet mich das Drama um Chris nicht so sehr. Es ist eher so, dass es mich beunruhigt zu wissen, dass Kyle solche Probleme hat.

Ich will verdammt nochmal wissen, was er für eine Last mit sich trägt und was ihn so sehr zu zerstören scheint.

HOLD ME TIGHT - abgeschlossenKde žijí příběhy. Začni objevovat