17.

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Er hält inne und dreht sich wieder zu mir um. „Was ist?"

Unsicher knete ich meine Hände und lächle entschuldigend. „Tut mir leid, ich bin momentan etwas gestresst. Es ist nett von dir, dass du das vor hattest."

Seine Augen weiten sich kurz, so als hätte er nicht erwartet, dass ich mich dafür entschuldigen würde. Doch dann nickt er und kommt wieder ein paar Schritte ins Zimmer. „Und da du sagst, dass es nett war, dass ich es vor 'hatte', gehe ich davon aus, dass du das Angebot nicht annimmst."

Ich knete weiter meine Hände und traue mich nicht ihm ins Gesicht zu sehen. „Kommt drauf an, was dieses Angebot beinhaltet." Was?! Wie komme ich jetzt dazu, ihm nicht direkt einen Korb zu geben?

Kyle lacht leise, was mich dann doch dazu bringt zu ihm aufzusehen. „Du stehst da wie ein kleiner verlorener Welpe, Mira."

Jetzt lächle ich auch nervös. „Das kommt nur so unvorbereitet. Ich meine vor ein paar Tagen hatten wir noch den größten Streit und jetzt willst du etwas -"

„Hör auf zu analysieren!", stöhnt Kyle und rollt mit den Augen. „Bitte, zieh dich um. Wir müssen bald los, damit wir auch wieder zu Hause sind bevor es dunkel wird."

„Du hast vor, den ganzen Tag mit mir zu verbringen?" Ich bin schockiert.

„Ganz genau, Mira. Nur du und ich. Den ganzen Tag." Er legt den Kopf schief und lächelt irgendwie arrogant. Aber auf komische Art und Weise sieht es ziemlich sexy aus.

„Und was machen wir?", frage ich schnell, bevor ich wieder anfange ihn anzuschmachten, denn ich muss wirklich sagen, dass Kyle selbst in diesen Klamotten wirklich gut aussieht.

„Ich will dir etwas zeigen. Und jetzt beeil dich bitte. Ich warte im Flur." Er kehrt mir den Rücken zu und verschwindet dann im besagten Flur, ohne meine eindeutige Zustimmung abzuwarten.

***

„Jetzt sag schon!", bettle ich zum gefühlt fünfzigsten Mal. Kyle will mir einfach nicht sagen, was er mit mir vor hat. Wir sitzen bereits in seinem Auto und sind auf dem Weg zu diesem geheimnisvollen Ort, den er mir nicht nennen will.

„Jetzt sei doch nicht so neugierig", lacht er. „Keine Sorge, es wird nicht so langweilig wie deine Besuche in der Bibliothek."

Und zack, da hat er die gute Stimmung schon längst wieder versaut. Leicht angesäuert schnaufe ich und verschränke die Arme vor der Brust. „Hör endlich auf damit."

„Womit?" Noch immer wirkt er belustigt.

„Damit, dich über mich lustig zu machen."

Kurz beobachte ich, wie sich sein Griff um das Lenkrad verstärkt, ehe er langsam ein und aus atmet. „Ich mache mich nicht über dich lustig, Mira." Seine Stimme ist so leise, dass ich ihn kaum verstehe.

„Was denn?", frage ich entnervt. „Wenn du andauernd dumme und beleidigende Kommentare über mich ablässt, dann kommt es mir irgendwann eben so vor."

„Ich lasse keine dummen Kommentare ab. Ich unterhalte mich doch nur mit dir."

„Pah!", rufe ich. „Dich mit mir unterhalten?! Andauernd wirfst du mir vor, dass ich mich meinen Büchern widmen soll, weil ich ja angeblich nicht zu euch passe. Hast etwas dagegen, wenn ich Zeit mit euch verbringe. Und das nennst du dann normales unterhalten?"

„Mira", knurrt er. Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, ehe er sich wieder auf die Straße konzentriert. „Fang nicht wieder an dich mit mir zu streiten. Immerhin bin ich derjenige, der hier gerade versucht etwas zu retten."

Da hat er natürlich nicht unrecht. Aber plötzlich stellt sich mir eine andere Frage. „Warum ist es dir denn so wichtig, dass sich unser Verhältnis bessert? Immerhin kannst du mich ja nicht ausstehen und -"

„Niemand hat je davon gesprochen, dass ich dich nicht ausstehen kann. Und jetzt bitte, lass dich einfach überraschen was dich erwartet und hör auf dir wieder die schlimmsten Horrorszenarien auszumalen. Du wirst es mögen, glaub mir."

Ich öffne schon den Mund um zu widersprechen, lasse es dann aber doch, als Kyle mahnend einen Finger hebt. „Mund zu!", sagt er einfach nur und ich gehorche.

***

Hätte mir jemand gesagt, dass Kyle ein verfluchter Wanderer wäre, hätte ich die Person wahrscheinlich ausgelacht. Aber leider ist dem so.

Wir wandern nun schon über zwei Stunden durch Gefälle, über Acker und durch die verschiedensten Büsche. Ganz zu schweigen davon, wie viele Zeckenbisse ich wohl nach dieser Aktion haben werde, ist mir langsam einfach hundeelend zumute, weil ich einfach nicht mehr kann.

Kyle dagegen läuft weiter als gäbe es kein Morgen und nimmt dabei nicht mal Rücksicht auf mich. Sein „Na komm schon" und „Du schaffst das, nur noch ein kurzes Stück", geht mir langsam wirklich auf den Keks. Zumal es schon seit geschlagenen 40 Minuten heißt 'Nur noch ein kurzes Stück'.

Als wir schließlich an einer Lichtung ankommen, lasse ich mich frustriert auf einen großen Stein fallen. „Das reicht, ich kann einfach nicht mehr!" Ich lasse den Kopf in meine Hände fallen und schüttle ungläubig den Kopf. „Dass du mir sowas antust! So viel zum Thema du könntest mich nicht ausstehen!"

„Miraaa!" Kyle wirkt plötzlich ganz aufgeregt. „Jetzt sieh dich doch einfach mal um!

Verwirrt hebe ich den Kopf also doch wieder und habe plötzlich das Gefühl, ich wäre im Paradies.

Ich springe auf, lasse meinen Rucksack fallen und laufe durch das knöchelhohe Gras, welches sich bis zu einer Klippe hin erstreckt.
Ich trete näher und kann es nicht fassen. Direkt unter mir befindet sich ein Wasserfall, der laut rauschend heftige Wassermassen mit sich trägt. Wie konnte ich das nicht hören, als wir uns dem hier näherten?

„Und?", fragt Kyle. Er ist dicht neben mich getreten und schaut nun ebenfalls die Klippe hinunter.

„Wow", bringe ich nur heraus und lass mich auf meine Knie fallen. Ich streiche mit den Fingern durch das helle, weiche Gras und lausche weiter dem Rauschen des Wasserfalls und dem darunter fließenden Flusses.
Rechts von mir sehe ich plötzlich zwei Rehe, die genüsslich an dem Gras fressen und uns gar ncht zu bemerken scheinen. Dazu zwitschern die Vögel, die sich in den Bäumen rund um der Lichtung befinden fröhlich vor sich her.
Hier muss ich wirklich im Paradies gelandet sein.

„Sieh mal", flüstert Kyle und deutet wieder in die Richtung der Rehe.

Dort trauen sich plötzlich auch zwei Kitze aus ihrem Versteck. Vorsichtig schauen sie sich um und schnuppern am Gras, bis sie aufspringen und fröhlich zu einem der Rehe hinlaufen. Wahrscheinlich wird es die Mutter der beiden sein.

„Es ist so wunderschön", hauche ich und bin fast zu Tränen gerührt.

Ich meine ich interessiere mich für Literatur. Wer kann es mir dann schon übel nehmen, dass mich so ein friedlicher und wunderschöner Ort so sehr berührt. Es ist viel zu romantisch, als dass man hierfür nichts empfinden kann.

Plötzlich bin ich schockiert. Romantisch? „Warum hast du mich hergebracht, Kyle?"
Ich klinge in keinster weise panisch oder verängstigt. Ganz im Gegenteil.
Egal weshalb er mich mit hierher genommen hat, ich bin ihm mehr als dankbar dafür.

Eigentlich kannte ich diese Stadt nur als graues und dreckiges Stück Pflaster. Doch ich bin froh, dass ich jetzt weiß, dass dem nicht so ist.

Kyle zuckt mit den Schultern. „Ich finde es einfach schön hier. Und um ehrlich zu sein..." Er lässt sich ebenfalls ins Gras fallen und stützt seine Ellbogen auf den Knien ab. Dabei schaut er dem Wasserfall dabei zu, wie er die vielen Wassermassen zu verschlingen scheint. „...wir hatten keinen guten Start und ich weiß nicht was du von mir hältst. Oder denkst. Deshalb ist es mir wichtig, dass du weißt wer ich bin und mich kennenlernst."

Ich weiß nicht recht, was ich darauf antworten soll, deshalb schweige ich.

„Weißt du Mira", beginnt er wieder und dreht sich zu mir um. „Ehrlich gesagt bin ich es leid, dass mich jeder wegen meiner Tattoos oder meinem Style in eine Schublade steckt. Ich bin viel mehr, als diese äußere Hülle herzugeben scheint. Niemand will das aber an mir sehen. Und ich will, dass ich als das angesehen werde, was ich auch wirklich bin. Und bei dir denke ich, dass ich die Chance habe das zu zeigen."

Mir steht der Mund offen. So viel Ehrlichkeit wie Kyle mir in diesem Moment entgegengebracht hat ist zu viel. Eindeutig.
Ist es überhaupt Ehrlichkeit, wenn er das sagt? Wie passt das mit dem Kyle zu tun, den ich in den letzten Wochen kennengelernt habe und der sich so viel Mühe gegeben hat mit seinen Aktionen, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als genau so über ihn zu denken, wie er es anscheinend nicht will.

Wie passen Natalie, seine Stiefschwester Kimberly und Clara's ehemalige Freundin da mit hinein?

„Autsch!", ruft er plötzlich und ein roter Handabdruck erscheint auf seiner Wange. 'Mein' Handabdruck!

HOLD ME TIGHT - abgeschlossenحيث تعيش القصص. اكتشف الآن