Kapitel 22 Sejla

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Der Weg war lang und beschwerlich, dachte ich, als ich über die wackelige Holzbrücke an Land ging. Es waren fast zwölf Tage vergangen seit ich von Sahena geflohen war. Jetzt stand ich hier und musste mich nichtmehr fürchten.

Als ich nach sechs Tagen Fußweg endlich am Hafen angekommen war, musste ich über das Meer gelangen. Ich hatte versucht jemanden zu finden, der mich mitnimmt. Am Anfang schien es Aussichtslos. Niemand wollte mir ohne Bezahlung die Mitfahrt anbieten. Nachdem ich noch einige andere Kapitäne und Fischer gefragt hatte, erbarmte sich einer. Er sagte, dass sein Schiff in die Junkelslande fährt, genauer gesagt nach Dwenstrock. Ich willigte ein und ging mit ihm auf das Schiff. Es war eine Handelsgaleere. Die Erste, die ich jemals gesehen habe. Sie war riesig und voll beladen. Der Kapitän erklärte mir, dass ich in einer Hängematte im Bauch des Schiffes schlafen konnte. "Wie lange wird die Fahrt dauern?", fragte ich. Er überlegte und biss sich auf die Lippe. "Bei gutem Wind drei Tage."

Den ersten Tag hatte ich über der Reling liegend verbracht. Es war meine erste Schiffahrt gewesen und das Schaukeln bereitete mir große Probleme. Am zweiten Tag war es besser, jedoch konnte ich nichts essen. Erst am dritten Tag ging es mir wieder gut. Diesen und den letzten Tag verbrachte ich damit Gelnur mit Jakob zu spielen. Es war ein altes Spiel, in dem es darum ging so viele Truppen wie möglich aufzustellen, um den König aus der Festung des Gegner zu befreien. Zum Glück war das Wetter die ganze Zeit über trocken gewesen. So konnten wir am Deck spielen. Der Morgen des fünften Tages war der letzte und kurz nachdem die Sonne aufgegangen war, hatten wir den Hafen erreicht.

Jetzt stand ich dort. Wusste nicht wohin. Ich kannte niemanden und niemand kannte mich. Ziellos ging ich auf den Marktplatz geradeaus zu. Es waren nur wenig Menschen dort. Ein paar Waschweiber füllten ihre Bottiche mit Wasser aus einem neu aussehendem Brunnen und Kinder spielen miteinander. An den Wegen, die vom Platz in alle Richtungen gingen waren sämtliche Geschäfte. "In der Nordstraße sind Schuster und Fleischer. Die Oststraße ist übersäht von Schmieden und Wohnhäusern. Die Südgasse ist eine kleine Straße in der ein paar Schenken stehen. Zu meiner Rechten befindet sich der Westgraben. Dort gibt es ein Gericht", so erzählte es mir eine nette ältere Frau. Sie lachte mich an: "Weißt du, die Straßen wurden nach den Himmelsrichtungen bennant, in die sie zeigen sollten. Allerdings wurde zur Bennenung ein Kompass verwendet, der defekt war. Jetzt zeigt der Westgraben nach Norden." Da musste ich auch lachen. Was für eine Leistung! Da benennen sie Straßen nach Himmelsrichtungen und machen es auch noch falsch. "Danke", sagte ich zu der Frau. Als sie aus meinem Sichtfeld gegangen war, entschied ich mich dazu in die Südgasse zu gehen.

Dort gab es tatsächlich ein paar Gasthäuser. Ich entschied mich für eines namens Lachender Vogel. Im Inneren sah es aus wie jede normale Schenke. Da alle Tische von mindestens drei Personen besetzt waren, musste ich mich irgendwo zu setzten. Ich beschloss einen Tisch nahe der Wand zu wählen, an dem zwei Leute mit einem Baby saßen. Als ich mich gesetzt hatte, beäugte ich die drei. Es waren eine Mutter, die ihr Kind stillte und ein stattlicher junger Mann, der bestimmt zehn Jahre jünger war, als die Frau. Sie alle trugen halbwegs saubere Kleidung und machten einen glücklichen Eindruck. Dann schaute der Mann auf. "Ich helfe Evernie mal eben", sagte er an die Mutter gewandt. Geschickt stand er von der Bank auf, lief einen Bogen um mich herum und ging zur Theke. Selbstbedienung? Ich beobachte, wie er ein Tablett dem Mädchen aus der Hand nahm, das es gerade tragen wollte. Sie lächelte ihn an, oder mehr den Stuhl an ihm vorbei. Er schien sich nicht davon beleidigt zu fühlen. "Nimm meinen Arm", sagte er zu ihr. "Ich schaffe das schon selber", protestierte sie und ging mit vorsichtigen Schritten auf den Tisch zu, an dem ich saß. Der Mann kam hinterher, jedoch war er schneller und stellte das Tablet in die Mitte des Tisches. Zwei Weinbecher und ein gräuliches Glas Wasser standen darauf. Ich bekam auch Durst. Gerade wollte ich aufstehen, als das Mädchen mir mit ihrer Hand ins Gesicht griff. "He!", sagte ich, mehr erschreckt als wütend. Das Mädchen lief rot an und begann sich sofort zu entschuldigen. "Das tut mir Leid, ich wollte... das war keine Absicht." "Schon vergessen", nahm ich ihre Entschuldigung entgegen. Sie tat zwei weitere Schritte und setzte sich zwischen den Mann und mich. Sie griff in Richtung des Tablets und als sich ein Becher in ihrer Hand befand roch sie daran. "Wein", säuselte sie und trank einen großen Schluck. Die Mutter, die ihr Kind in den Armen wiegte nahm das Wasserglas und sah es angewiedert an. "Evernie, was ist das denn?", fragte sie vorwurfsvoll. "Ich habe Wasser bestellt, das einzige Wasser, das sie hatten", antwortete das Mädchen unberührt. Daraufhin zuckte die Mutter mit den Schultern und trank das Glas in einem Zug leer. Als sie es herunter geschluckt hatte, streckte sie die Zunge heraus und verzog ihr Gesicht. "Möchtest du auch einen Schluck?", fragte das Mädchen mich plötzlich und hielt mir den Weinbecher unter die Nase. Eigentlich hatte ich immer noch Durst, aber ich verneinte höflichkeitshalber. "Tut mir wirklich Leid wegen eben", entschuldigte sie sich noch einmal, "aber vorhin hast du da noch nicht gesessen und als Blinde bemerkt man solche Veränderungen nicht immer." Sie ist Blind, die Arme! Warum ist mir das nicht schon aufgefallen? "Wirklich, es ist alles in Ordnung." Sie war sichtlich erleichtert. "Wer bist du denn?", wollte sie wissen. "Sejla." "Ich bin Evernie, aber das hast du vermutlich schon mitbekommen." Ich nickte. Sie wartete. Plötzlich brach der Mann in Gelächter aus. "Sie hat genickt, nur damit du es weißt", erklärte er. Jetzt lachte auch das Mädchen mit ihm. Peinlich, dachte ich. "Du gefällst mir", sagte die Mutter, "normalerweise lacht Evernie selten und nicht so herzhaft." "Lachen ist wichtig!", sagte ich. Das schien die korrekte Antwort zu sein. "Was hast du früher gemacht?", fragte sie. "Ich war Dienerin der Erbin von Sahena." "Hast du Lust vielleicht jetzt Kindermädchen meiner süßen Charlotte und Helferin von Evernie zu werden?" Als sie den Namen ihres Baby's sagte, gluckte es auf eine süße Art und Weise. Macht sie mir tatsächlich ein Arbeitsangebot? "Ich befürchte aber, dass ich dich nicht mit Geld bezahlen kann. Was ich dir geben kann ist ein Bett und genug Essen." Das ist mehr als erwartet und auf jeden Fall schneller, als ich dachte. Aber konnte ich mich wirklich um ein Baby kümmern?

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