Kapitel 4 | bon appétit

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Meine Gedanken arbeiten dank des gestiegenen Adrenalinspiegels auf Hochtouren, ebenso wie der Rest meines Körpers. Trotz der Schmerzen am ganzen Körper und dem unendlichen Durst und Hunger bin ich fest entschlossen und fühle mich stärker denn je.

Ich werde es schaffen, ich werde es schaffen hier rauszukommen und ich werde wieder frei sein.

Ich werde Niall finden. Niall.

Sofort zieht sich mein Herz wieder zusammen. Es schmerzt an ihn zu denken und die Möglichkeit, dass es ihm nicht gut geht oder er gar verletzt ist quält mich. Ich bete, dass er in Sicherheit ist. Sollte das nicht der Fall sein weiß ich nicht, wie ich es aushalten werde. Ich darf nicht daran denken, ich darf mir nicht ausmalen, was ihm geschehen sein könnte, ich muss die Nerven behalten.

Ihm geht es gut, er ist in Sicherheit. Ich werde es hier herausschaffen und ich werde ihn wiedersehen, ich werde seinen Körper in meinen Armen halten können und seine Arme um meinen spüren können, ich werde seinen Duft wieder riechen können und seine Nähe spüren. Genauso werde ich meine Eltern wiedersehen, ich werde wieder zurück in mein Zimmer gehen können, ich werde wieder in mein Leben zurückkehren können, als wäre das hier alles nie geschehen. Das hier wird vorbei sein und ich werde wieder glücklich sein können, ich werde wieder leben können.

Ich werde von Schlüsseln, die die Türe auf der anderen Seite aufschließen, und einem danach folgenden Ächzen der Türe aus meinen Gedanken gerissen. Sofort hebe ich meinen Kopf an und blicke nach vorne, erwartungsvoll zu erfahren, wer mich diesmal besucht.

„Guten Morgen, meine Liebe“, ertönt die dunkle Stimme des Clowns, die einer Rasierklinge ähnelt. Jedes Mal erschreckt dessen rauer Klang mich aufs Neue und lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen.

Es ist also Morgen? Wie viele Tage mögen wohl vergangen sein? Wie lang mag der Abend, an dem ich Niall das letzte Mal gesehen habe, wohl her sein? Oder waren es doch erst wenige Stunden und es ist erst der Tag danach?

Diese Ungewissheit, dieser völlige Verlust des Zeitgefühls treibt einen in den Wahnsinn. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich so nach einer Uhr, irgendetwas, das mir die Zeit sagen könnte, sehnen würde. Meine einzige Möglichkeit die Zeit zu erfahren, ja meine einzige Möglichkeit auf Rettung von draußen haben sie mir genommen, indem sie mir mein Handy abgenommen haben, denn meine Hosentasche, in der es sich befanden hat ist leer. Und doch sehne ich mich so unglaublich nach einer gottverdammten Uhr. Dabei habe ich mir nie besonders viel aus Uhrzeiten gemacht und bin bekannt gewesen für meine Unpünktlichkeit. Doch im Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher als eine Uhr, eine lächerliche Uhr. Wenn ich hier jemals herauskomme schwöre ich mir immer eine Uhr bei mir zu haben.

 „Sie haben ja ihre Mahlzeit noch nicht beendet“, holt er mich wieder aus meinen Gedanken zurück und beugt sich zu meinem Teller hinunter. Befangen beobachte ich ihn und rücke enger an die Wand hinter mir.

Seine Gestalt macht mir Angst. Er ist riesig, hat eine große Stirn und seine Haut ist weiß bemalt. Er hat viel zu weit oben falsche Augenbrauen auf seine Stirn gemalt, die so geschwungen sind, dass es boshafter wirkt als er wahrscheinlich tatsächlich aussieht. Das rot seiner Lippen passt zu dem rot seiner Nase und dem seiner wild vom Kopf abstehenden Haare.

Durch die viele Gesichtsbemalung lässt sich für mich nur schlecht das Gesicht unter all der Farbe vorstellen, aber anhand der vielen Falten um die Augen schätze ich, dass er mindestens in seinen Vierzigern sein muss.

„Hat es Ihnen etwa nicht geschmeckt?“ Plötzlich beginnt er zu lachen und ich schrecke zurück. Wieso lacht er?

Ich sehe zu meinem Teller und erstarre. Dank des großzügigen Lichtes, das durch die offenstehende Türe fällt, erhasche ich nun endlich einen Blick auf dessen Inhalt, doch dieser ist längst nicht so, wie ich erwartet hatte.

Augenblicklich wird mir übel und ich spüre, wie mein Mageninhalt sich wieder einen Weg nach oben anbahnt. Schnell presse ich die Innenfläche meiner Hand gegen meinen Mund.

Was ich für Spaghetti mit Tomatensoße und einer Art Fleischbällchen gehalten habe, stellt sich als Spaghetti mit einer undefinierbaren Dickflüssigkeit heraus. Mit … oh Gott. Meine Augen müssen mir einen Streich spielen, das ist unmöglich.

Zwischen den Nudeln und der dickflüssigen „Soße“ befindet sich Gehirnmasse. Ich spüre bereits, wie mein Mageninhalt meinen Hals erreicht hat und versuche ihn mühsam zu unterdrücken. Das kann nicht wahr sein, das können unmöglich Gehirne sein. Doch genau das sind sie. Sie sind zu klein um Menschen zu gehören, wahrscheinlich haben sie mal kleineren Tieren wie Katzen oder Kaninchen, etwas in der Richtung, gehört. Ich schüttele mich vor ekel und die Haare an meinen Armen stellen sich angewidert auf.

Was für ein perverser Mensch denkt sich bloß so etwas aus?

„Hat es Ihnen die Sprache verschlagen, meine Schöne?“ Erneut vernehme ich seine dreckige Lache. Mir wird furchtbar schwindelig und ich starre mit weit aufgerissenen Augen auf den Teller. Es ist wie ein Unfall, man will nicht hin sehen, aber der Anblick zwingt einen dazu. Die eine Hand noch immer vor den Mund gepresst, die andere an meinen Bauch haltend schrecke ich zurück. Davon habe ich gegessen. Oh mein Gott.

Die Übelkeit nicht länger unterdrücken könnend gelingt es mir endlich meinen Blick abzuwenden und ich drehe mich zur Seite, in letzter Sekunde schaffe ich es mit den Händen meine Haare zurückhalten zu können bevor ich meinen Mageninhalt über den Boden ausleere. Es fühlt sich schrecklich an, als würde ich auch den letzten Teil von mir verlieren, als wäre ich jetzt endgültig nur noch eine leere Hülle meiner selbst. Ich gebe erbarmungswürdige Geräusche von mir und kann das Elend kaum ansehen, also schließe ich schnell meine Augen.

Das Lachen des Clowns wird lauter und ich wische mir mit dem Handrücken über den Mund, als sich endlich sämtlicher Inhalt meines Magens über den Boden ergossen hat.

„Es scheint mir Sie hätten das Menü nicht allzu gut vertragen“, erklingt die raue Stimme, „eine Schande.“

Ich atme tief ein und versuche den Geruch, der im Raum schwebt, auszublenden, dann sehe ich zu ihm hinauf. Wieso tut er mir das an? Was für ein kranker Mensch ist er, dass er mir einen Teller mit Gehirnmasse serviert? Was verdammt habe ich ihm bloß getan, dass er so widerwärtige Dinge tut?

„Ich gehe davon aus, dass Sie die nächsten Stunden erstmal keinen weiteren Hunger verspüren werden, nicht wahr?“

Verstohlen blicke ich ihn an und spüre, wie Hass in mir aufsteigt. Unbändiger Hass, auf alles, was er mir angetan hat, und hätte ich mich nicht gerade über den Boden ergeben und hätte noch die Kraft dazu, so würde ich ihn anspringen und das Gesicht zerkratzen. Ich würde sämtliche Farbe in seinem Gesicht abschaben, damit ich das Gesicht dieses Psychopathen sehen könnte, bevor ich ihn umbringe. Ich weiß noch nicht wie, aber mir würde ein Weg einfallen. Doch mein Körper ist schwach und ich bin wehrlos, ich würde es niemals in diesem Zustand schaffen ihn zu überwältigen. Und wahrscheinlich würde ich letztlich auch doch zu große Angst haben.

„Ich werde Sie nun alleine lassen. Falls Sie doch noch Hunger erleiden sollten… der Teller ist noch nicht leer, greifen Sie ruhig zu. Sie brauchen sich keine Sorgen machen jemand anderem etwas weg zu essen, der Teller gehört ganz Ihnen.“ Er grinst boshaft und dreht sich wieder  um. Fassungslos blicke ich hinterher und sehe zu, wie er den Raum verlässt und die Tür sich knarrend schließt.

Wieder umgibt mich die Dunkelheit und ich sitze zunächst einige Sekunden starr da, die Augen noch immer auf die Stelle, an der die Tür eben ins Schloss gefallen ist, fixiert. Eine Träne läuft meine Wange hinunter, dicht gefolgt von einer zweiten und nur wenig später folgen auch Nummer drei und vier. Ich mache mir nicht mal die Mühe mehr sie wegzuwischen, darin sehe ich keinen Sinn mehr.

Ich schlucke schwer und spüre den widerlichen Geschmack in meinem Mund. Schnell greife ich blind in die Richtung, in der ich meine Flasche zu stehen glaube und finde sie nach einigem Tasten endlich. Hastig schraube ich ihren Deckel ab und lasse die warme Flüssigkeit meine Kehle hinunterlaufen und dabei meinen Mundinnenraum durchfluten.

Bitte, lass mich das alles geträumt haben. Ich darf nicht wirklich Spaghetti in Gehirnmasse eingelegt gegessen haben. Nein, ich darf erst gar nicht von zwei Psychopathen eingesperrt worden sein. Ich verschränke meine Finger und blicke nach oben an die Decke. Bitte, Gott, lass mich endlich aus diesem Albtraum aufwachen.  

Doch du kannst nicht aus einem Albtraum aufwachen wenn du nicht schläfst. 

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