Kapitel 38 | suffocation

1K 120 29
                                    

Grelle Lichter sind auf die noch leere Manege gerichtet, die Luft ist wie elektrisiert. Sämtliche Augenpaare sind nach vorne gerichtet und warten gespannt.

Scheinwerfer schwenken durchs Zelt und deuten endlich den Beginn der Show an. Die Menge spendet Beifall und die Rampenlichter drehen weg von der Bühne und hüllen anstelle dessen das Publikum ein, nur um kurz darauf wieder zurück zur Manege zu schwenken, wo sich nun auf eine zusammengekauerte Gestalt befindet, die sich wenige Sekunden zuvor noch nicht dort befand. Es handelt sich um einen jungen Mann, welcher die Knie an die Brust gezogen hat, die Arme um die Oberschenkel geschlungen und den Kopf gesenkt.

Trommelwirbel setzt ein, simultan beginnen sich seine Gliedmaßen allmählich in Bewegung zu setzen und auszustrecken. Erst die Arme, dann die Beine, als letztes den Kopf, welcher von einer Schulter zur nächsten rollt. Sein Oberkörper folgt der Bewegung und verdreht sich dabei auf unnatürliche Weise, dass allein bei dem Anblick einem das Rückgrat schmerzt. Das Publikum beginnt erneut zu applaudieren.

Während der Applaus verebbt, löst er sich aus dieser Pose, setzt sich nun in den Schneidersitz und positioniert seine Hände vor den Beinen, dann kippt er seinen Oberkörper langsam nach vorne und verlagert damit seinen Schwerpunkt auf die Oberarme. Immer weiter lehnt er sich nach vorne, dabei sind seine Muskeln sichtbar stark angespannt, gleichzeitig beginnt er seine Beine anzuheben und auseinander zu falten, um sie dann weiter nach oben zu strecken bis er sie kerzengerade über seinen Oberkörper hält. Wieder klatschen die Zuschauer Beifall, doch das erst der Anfang. Seine Beine senken sich langsam vorne über, weiterhin steht jeder Muskel seines Körpers unter Spannung. Sobald seine Füße den Boden berühren tappen seine Hände weiter nach vorne, zwischen seine Beine. Mehr und mehr verbiegt er sich, bis sein Kopf zwischen seinen aufgestellten Beinen aufschaut.

Das Publikum hält den Atem an, doch er geht noch weiter. Die Unterarmseiten am Boden aufgesetzt, hebt er als krönendes Finale die Beine hoch in einem neunzig Grad Winkel. Die Menge ist begeistert und neben dem Applaus ist nun auch lauter Jubel zu hören.

Die ganze Zeit über zuvor hielt er den Blick gesenkt, doch nun sieht er das erste Mal während der ganzen Darbietung langsam hoch. Grüne Augen blicken in meine Richtung, sprechen einen stummen Vorwurf.

Mein Atem stockt.

Seine Lippen bewegen sich leicht, als wolle er etwas sagen, doch werden sie von den Fäden ober- und unterhalb von ihnen gehindert.

Ein plötzlicher Pistolenschuss durchbricht die Stille mit einem Schlag, im gleichen Moment, in dem sämtliches Licht erlischt, fällt auch er abrupt in sich zusammen.

Erschrocken springe ich auf, blicke mich panisch um. Im ganzen Zelt ist es totenstill und stockdunkel. Mein Herz schlägt mit einem Mal wie verrückt, als wolle es aus meiner Brust springen und zerschlagen, immer wieder sehe ich mich panisch um und stolpere durch die nun scheinbar leeren Publikumsreihen. Mit jeder Sekunde gewöhnen sich meine Augen mehr und mehr an die Dunkelheit. Von den Zuschauern, von denen ich hätte schwören können, dass sie zuvor nach auf den zahlreichen Plätzen sich befanden, fehlt jede Spur, als seien sie nie hier gewesen.

Ich laufe weiter und klettere über den Rand der Manege, laufe in deren Mitte, wo ich einen dunklen Schatten erkennen kann. Je näher ich ihm komme, desto besser kann ich die vagen Umrisse von Harrys zusammengesackten Körper erfassen. Vorsichtig beuge ich mich zu ihm herunter und drehe sein Gesicht langsam zu mir – und erstarre. Die grünen Augen haben ihre Farben verändert, anstelle von ihnen blicken braune, völlig leblose Augen mir entgegen, und auch der Rest seines Gesichts hat sich verändert.

Er wollte mir nur helfen.

An der Hand, mit der ich mich am Boden aufstütze, spüre ich ein unangenehm feuchtes Gefühl und erkenne, dass meine Finger in eine dunkle Substanz getaucht sind. Blut, schießt es mir durch den Kopf und ich stolpere zurück. Um den regungslosen Körper hat sich eine riesige Blutlache gebildet. Ich taumele weiter nach hinten und muss feststellen, dass meine Schritte dunkle Abdrücke dabei hinterlassen. Alles in meinem Kopf beginnt sich zu drehen. Instinktiv fahre ich mir durch die Haare vor Verzweiflung, doch schmiere dabei das frische Blut an meinem Gesicht ab und schnappe nach Luft. Angewidert strecke ich meine Hände von mir weg und blicke mich immer wieder panisch im Zelt um, dabei kann ich meine Beine unter meinem Gewicht zittern spüren.

captured | ✓Where stories live. Discover now