Kapitel 4 | bon appétit

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Ich kenne das Gefühl von Einsamkeit. Ich kannte es schon, bevor ich in dieser Dunkelheit gefangen war, ebenso wie dieses Gefühl von Leere. Ich kannte beide Gefühle bereits zuvor, doch ich kannte sie nicht in dem Ausmaß, in dem ich sie jetzt langsam kennenlerne.

Es ist was völlig anderes tagelang allein in seinem Zimmer zu verbringen als in einer dunklen Kammer. Wie sehr wünsche ich mir in meinem warmen, weichen Bett zu liegen. Mein Rücken tut weh vom harten Boden. Nicht nur mein Rücken, mein ganzer Körper. Jeder einzelne Muskel, jeder Nerv schreit vor Schmerz.

Es gibt kein entkommen aus dieser Finsternis. Doch es ist nicht nur die Dunkelheit, in der ich gefangen bin. Ich bin auch gefangen in meinen eigenen Gedanken. Sie lassen sich nicht einfach abstellen und es macht mich wahnsinnig. Sie kreisen um alles und ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so viel Zeit damit verbracht nachzudenken. Mir bleibt auch keine andere Möglichkeit als mich meinen Gedanken hinzugeben, schließlich ist mir außer ihnen nichts geblieben.

Doch sie drohen meinen Kopf zu sprengen. In der einen Sekunde zeigen sie mir Erinnerungen an meine Familie und Freunde, in der nächsten zeigen sie mir meine Aussichtslosigkeit auf und bringen mich mehr und mehr zur Verzweiflung. Ich versuche mich meist auf die schönen Erinnerungen zu konzentrieren und mich an ihnen festzuhalten, denn genau das ist es, was ich brauche. Etwas, an das ich mich festhalten kann, etwas, das mich vor dem Ertrinken bewahrt. Dem Ertrinken in der Dunkelheit ebenso wie der in meinen eigenen Gedanken. Aber das ist längst nicht so einfach wie es klingt.

Die unerträglichen Gedanken steigen immer wieder an die Oberfläche und sind stärker als die schönen. Immer wieder male ich mir aus, was man mit mir vorhaben könnte. Da fällt mir einiges ein, das meiste rührt wohl von den vielen Horrorfilmen, die ich gesehen habe.

Man könnte mich lebendig vergraben, wie Ryan Reynolds es im Film Buried wurde. Oder wie in I Spit On Your Grave brutal vergewaltigen. Mir könnte die Haut vom lebendigen Leibe abgezogen werden, wie in Martyrs. Oder meine Entführer haben eine Schwäche für meine Innereien und deren Geschmack, wie Dr. Hannibal Lecter.

Mir fallen die absurdesten Ideen ein. Ich sollte weniger Horrorfilme schauen. Vielleicht hyperventiliere ich auch nur, ich male mir gleich immer das Schlimmste aus.  

Wiederum, ich befinde mich eingesperrt in einer dunklen Kammer, gefangen von zwei Psychopathen, einer davon ist ein angsteinflößender Clown mit stilvollen Akzent, der andere ein unheimlicher Maskenmann. Nicht mal ihre Gesichter kenne ich. Ich könnte, sollte ich es schaffen zu entkommen, nicht einmal ihre Gesichter identifizieren. Wenn ich überhaupt es schaffe zu entkommen.

Ich darf die Hoffnung so schnell nicht aufgeben. Auch, wenn ich nicht weiß, wie viel Zeit schon vergangen ist darf ich noch nicht aufgeben. Es muss einen Ausweg geben, meine Lage kann nicht aussichtlos sein. Ich bin nicht bereit jetzt schon aufzugeben und mich meinem Schicksal widerstandslos zu fügen, denn das ist nicht mein Schicksal. Ich weiß nicht, was genau mein Schicksal ist, doch mit siebzehn in den Fängen von zwei Psychopathen zu sterben ist es sicherlich nicht, so viel ist klar.

Alles, was ich brauche, ist ein Plan. Doch inzwischen ist mir bewusst, dass das alles andere als einfach wird. Ich werde geduldig sein müssen und auf den richtigen Moment warten müssen. Ich werde mehrere Pläne im Hinterkopf behalten müssen, damit ich für jede Möglichkeit gewappnet bin. Es lässt sich nicht genau einschätzen, wie sich eine mögliche Flucht darstellen könnte, also muss ich jede Chance, die ich kriege, nutzen. Allerdings bedachter als zuvor. Doch ich werde es schaffen. Ich werde nicht zulassen, dass diese zwei kranken Köpfe gewinnen. So leicht gebe ich mich nicht geschlagen.

Nach meinem letzten Fluchtversuch werde ich erstmal die Füße still halten müssen, um nicht aufzufallen. Die beiden müssen denken, ich hätte aufgegeben. Ich muss es überzeugend spielen, die Rolle des kleinen, hilflosen Opfers, das längst sich ihrem Willen unterworfen hat und mit dem Leben abgeschlossen hat. Doch dabei darf ich nicht zulassen, dass ich mir diese Rolle selber abkaufe. Ich muss dabei stark bleiben und sie beobachten, bis ich einen genauen Plan finden werde. Mir wird schon etwas einfallen.

captured | ✓Where stories live. Discover now