Rain in May (Max Werner)

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Es ist gerade Oktober. Kalt, nass, düster. Ich kann es nachvollziehen, dass viele Menschen den Herbst deprimierend finden. Allem Anschein nach hat er keinerlei Vorzüge; kein Schnee zum Schlittenfahren und Schneemann bauen, weder blühende Frühlingsblumen noch eine aufblühende Welt und keine heißen Sommertage, die man im Schwimmbad verbringen könnte. Jeder halbwegs normale Mensch würde diese Jahreszeit am liebsten überspringen.

Ich liebe den Herbst. Die Welt ist so friedlich kurz bevor sie Schlafen geht. Das gedämpfte Licht, das durch die Wolken dringt und alles ein bisschen verwaschen erscheinen lässt. Die Blätter, die so vielfältig bunt sind und doch so eine starke Einheit bilden. Der Nebel, der einen einhüllt und alles zu verschlucken scheint, was unwichtig ist. Und einen mit einem gewissen Gefühl des 'aufgehoben seins' zurücklässt. Kurzum: der Herbst ist so wunderschön friedlich.

„Aber es ist doch so kalt und dann schneit es nicht mal, dass sich das lohnen würde!", könnte man jetzt argumentieren. Mit den Temperaturen ist das so eine Sache. Mir wird oft nachgesagt, ich sei sehr verfroren, weil ich selbst im Hochsommer nur langärmlig und meist mit langer Hose anzutreffen bin. Das hat aber eher selten mit der Temperatur zu tun, sondern vielmehr damit, dass ich das schlichtweg niemandem antun will. Ich bin fett. Ich bin abstoßend. Ich habe Narben auf beinahe jedem Quadratzentimeter meines Körpers. Narben, deren Herkunft ich nicht abstreiten kann. „Woher kommen denn die größtenteils akkurat parallel angeordneten und offensichtlich mit medizinischen Nähten versorgten Verletzungen?" – „Ach das. Katze... Maschendrahtzaun... Fleischwolf?" Nicht wirklich. Und selbst wenn die Narben nicht wären, würde ich trotzdem versuchen, so wenig Haut wie möglich zu zeigen. Ich kann mich doch selbst schon nicht im Spiegel anschauen ohne vor Scham und Ekel zusammenzubrechen. Warum also sollte ich das anderen antun?

Gestörte Körperwahrnehmung nennen sie es. Im Prinzip ignoriere ich alle Signale, die mir mein Körper evolutionsbedingt schickt. Ich streite sie entweder ab oder blende sie aus. Deswegen interessiert mich Kälte kaum, Wärme wird geleugnet, Hunger muss so sein und Völlegefühl wird bis zum Erbrechen ausgereizt - im wahrsten Sinne des Wortes. Und die natürlichste aller Eigenschaften, sich selbst zu schützen und vor Schaden zu bewahren, habe ich wohl vor langer Zeit verloren. Wie sonst ließe sich all das erklären, was ich mir und meinem Körper angetan habe?

Eine Frage, die sich mir nach über vier Jahren Therapie immer noch nicht erschlossen hat. Ob es überhaupt eine Antwort gibt?

Noch ein Grund, warum ich den Herbst so liebe. Der Herbst stellt keine Fragen. Er kennt nur eine Antwort, und die reicht aus: Was zählt, ist der Moment. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Nur das Hier und Jetzt.














GedankenrauschWhere stories live. Discover now