Roman(ze) mit Fluoxetin

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Ein Jahr im Ausland zu verbringen, ist der Traum vieler Schüler. Man will Erfahrungen sammeln, seinen Horizont erweitern, eine neue Sprache erlernen und, und, und. Victoria, Protagonistin in »Roman(ze) mit Fluoxetin« von suedie, strebt einen Aufenthalt in Irland an, hat ihre Ziele aber noch höhergesteckt, denn dort will sie ein monumentales Werk verfassen.

Die Handlung beginnt im Jahr 1994, kurz vor den Sommerferien, setzt aber nicht direkt mit dem eigentlichen Geschehen ein, sondern bringt dem Leser zunächst die sechzehnjährige Erzählerin näher, die seit längerer Zeit das Antidepressivum Fluctin einnimmt, sich dadurch aber nicht abhalten lassen will, den ersehnten Auslandsaufenthalt im Land der Feen und Kobolde zu verbringen. Auch im späteren Verlauf des Romans liegt der Fokus hauptsächlich auf dem, was Victoria denkt, was sie wie wahrnimmt und welche Gedanken über ihr Umfeld sie pflegt.

Das Wichtigste bei einem Coming-of-Age-Roman ist meiner Ansicht nach die Authentizität. Bei vielen Büchern wird diese dadurch verschenkt, dass der zumeist erwachsene Autor keinen Zugang mehr zu den Denkweisen eines Jugendlichen hat oder aber – was hier auf Wattpad häufig zu finden ist – der Verfasser selbst sich noch in diesem Alter befindet, aber nicht die nötige Distanz aufbringt, um die Erfahrungen nachvollziehbar zu schildern oder das Szenario realistisch zu halten.

»Roman(ze) mit Fluoxetin« hat diese Hürde allerdings einwandfrei überwunden. Das Identifikationspotenzial mit Victoria ist groß, obwohl sie weder psychisch gesund ist, noch eine Weltanschauung hat, die man unbedingt teilen sollte. Vielmehr ist sie ihren Ideologien verfallen, möchte rebellisch sein und sich bewusst von der breiten Masse absetzen, welche sie sich klar unterordnet. Das macht sie alles andere als sympathisch, jedoch nicht zu einer ungeeigneten Erzählerin. Die Art und Weise, wie sie zu diesen Schlüssen gelangt, ist so nachvollziehbar geschildert, dass man leicht seine eigenen Denkmuster darin wiederfinden und reflektieren kann.

Diese Anschaulichkeit ist wohl auch dem Stil der Autorin zuzusprechen, welcher sich äußerst flüssig lesen lässt. Das Gemisch aus Para- und Hypotaxen ist sehr angenehm und variiert je nachdem, wie der Text wirken soll. Die Formulierungen sind auf den Punkt gebracht, lassen wenig Interpretationsspielraum und fassen teils vielschichtige Gedankengänge auf kompakte Art zusammen. Man muss sich beim Lesen nicht anstrengen, wird an die Hand genommen und durch Victorias Welt geführt, was wiederum das Verständnis für diese stärkt. Gerade bei einem Jugendbuch finde ich es äußerst angenehm, einen eher simplen, wenn auch nicht einseitigen Stil präsentiert zu bekommen, der nicht vor Metaphern und Bildern strotzt.

Es ist alles so direkt, dass es kaum auffällt, dass man den Namen der Protagonistin erst nach einem Drittel des Buchs erfährt, als sie sich Erin vorstellt, einem Jungen, den sie in der Bibliothek trifft, als sie schon ein paar Wochen in Irland verbracht hat. Generell habe ich damit kein Problem, hätte es aber reizvoller gefunden, ihren Namen im Verlauf des Romans gar nicht fallen zu lassen. Wahrscheinlich wäre mir erst zum Ende hin aufgefallen, dass ich gar nicht ihren Namen kenne, dafür aber umfassend über ihre Weltanschauung und die Beziehungen zu ihrer Mutter, ihrer Gastfamilie und Mitschülern in Irland informiert bin.

Durch das plötzliche Erwähnen des Namens wird außerdem verstärkt auffällig, dass gerade der Anfang des Romans in einem passiven Ton geschildert ist. Es gibt wenige Dialoge und erst recht keine aktive Handlung, was ich generell nicht als störend erachte, es aber zu einem Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Abschnitten führt. Die Exposition wirkt so im Nachhinein langwieriger und zäher als sie eigentlich ist, wohingegen das Ende Victorias Kontemplieren über das Geschehen vermissen lässt.

Generell verhält es sich so, dass die Gewichtung der einzelnen Komponenten noch nicht so ganz stimmt, es manchmal zu Durststrecken kommt, die glücklicherweise durch ein unvorhergesehenes Ereignis durchbrochen werden, wenn es gerade zu viel wird. Diese Handlungspunkte werden ausschließlich durch äußere Bedingungen hervorgerufen, auf die Victoria keinen Einfluss hat, was die vorherrschende Passivität ihrerseits betont. Sie wirken jedoch nicht zu gestellt, sodass das Fortschreiten der Handlung, die zweifellos keinen klassischen Spannungsbogen aufweist, dennoch natürlich wirkt.

Für gewöhnlich ist es mir sehr wichtig, dass ein Roman über differenzierte, bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Charaktere verfügt. Das ist bei »Roman(ze) mit Fluoxetin« nicht der Fall oder zumindest nicht erkennbar. Stattdessen wird geschickt mit Stereotypen gespielt und trotz oder gerade aufgrund einseitiger Darstellung, hatte ich den Eindruck, ein durchaus glaubwürdiges Szenario vor mir zu haben, was eben durch die Präsenz der Erzählerin sowie die durch sie verursachte Verzerrung und Filterung der verschiedenen Aspekte, hervorgerufen wird.

Es handelt sich also um eine Coming-of-Age-Roman, der wirklich die Zeit porträtiert, in der der Protagonist zwischen Kindsein und Erwachsenenalter steht und nicht durch wilde Charakterkonstellationen und Hintergründe versucht, möglichst viel erzwungene Einzigartigkeit zu kreieren. Umso erstaunlicher ist das, wenn man sich rückblickend darauf besinnt, dass man mit Victoria eine Halbwaise hat, die immer noch schwer mit dem Krebstod ihres Vaters zu kämpfen hat, ein plötzlicher Todesfall die Zeit in Irland überschattet und am Ende auch noch die IRA indirekt mitmischt, sodass die Bedingungen für Überdramatisierung theoretisch gegeben sind.

Stattdessen habe ich genau das bekommen, was ich von einem Jugendroman erwarte, wenn auch die Feinjustierung noch nicht stimmt. Leichte Unterhaltung, die gleichzeitig keine leichte Unterhaltung ist und mich dem Genre nun ein Stück weniger genervt gegenüberstehen lässt.

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