61. Letzte Geheimnisse

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Am nächsten Morgen weckt Jim mich früher als gestern, denn er muss aufstehen und arbeiten gehen. Müde strecke ich mich im Bett und schaue Jim zu wie er seinen Anzug für heute zusammenstellt.
"Wie machst du das, dass du in Anzügen so verdammt gut aussiehst?", murmele ich und gähne direkt im Anschluss. Grinsend schaut er zu mir und geht mit seinen Sachen zur Tür.
"Die Anzüge stehen mir halt."
Tolle Antwort.
Ich bleibe noch liegen während Jim nach unten geht, und zwanzig Minuten später erst wieder hochkommt.
"Melody", säuselt er und setzt sich zu mir aufs Bett, während ich mich murrend in das Kissen grabe.
"Komm schon Honey, willst du mir nicht Tschüß sagen?"
Langsam drehe ich mich auf den Rücken und schaue ihn an. Seine schwarzen Haare sind ordentlich gekämmt und er riecht nach seinem Aftershave. Er hat einen dunkelblauen Anzug gewählt und dazu eine passende Krawatte.
"Nur weil du es bist", antworte ich schon etwas wacher und setze mich hin um Jim einen Kuss zu geben.
"Wann kommst du denn wieder?", frage ich ihn und er wiegt unsicher den Kopf hin und her.
"Meistens zwischen vier und fünf."
"Und wie viel Uhr ist es jetzt?"
"Zehn nach sechs, in zwanzig Minuten muss ich los."
Er küsst mich nochmal und erstickt so meinen Protest, dass er mich so früh geweckt hat.
"Dann kannst du mir ja noch eine Frage beantworten", meine ich und er legt den Kopf leicht schief.
"Das ist mir im Traum eingefallen und ich dachte... naja, einfach fragen ist das Beste", fange ich an und er lächelt.
"Okay..."
"Ich habe mich gefragt ob du Waffen hast, und wenn ja, wo sie sind. Denn irgendwie habe ich das Gefühl dass ich dieses Haus nicht ganz kenne. Außerdem denke ich dass jeder Psychopath Waffen hat."
Bei meinem letzten Satz lacht er leise und steht auf.
"Du hast recht, und zwar in allen Punkten."
Er bedeutet mir ihm zu folgen und geht zu einem der Schränke an der Wand. Langsam folge ich ihm, da öffnet er den Schrank mit einem Schlüssel und enthüllt einen Raum hinter dem Schrank. Er geht hinein und breitet die Arme aus, dann dreht er sich zu mir herum und steckt die Hände in die Hosentaschen während ich zu ihm komme.
Was ich sehe verschlägt mir fast den Atem:
An der rechten Wand sind fein säuberlich verschiedene Messer nach Größe sortiert, zusammen mit diversen Scheiden und Holstern. Die Wände links und geradeaus hängen voller Schusswaffen, mal kleine Revolver und sogar winzige Pistolen, aber auch Gewehre und Maschinenpistolen. Ich entdecke auch aufschraubbare Schalldämpfer, Blendgranaten und noch viele andere Dinge, die ich nicht kenne. In der Mitte des Raumes steht ein schwarzer Tisch, auf dem momentan eine Pistole und ein offenbar benutztes Messer liegen. Getrocknetes Blut klebt am Heft und daneben liegen Tücher und andere Putzutensilien. Staunend und auch neugierig schaue ich mich um und sehe dann wieder zu Jim, der noch immer seelenruhig dasteht und mich beobachtet.
"Das hat ja... ganz schön viel Schusskraft", meine ich und er grinst leicht. Auch wirkt er erleichtert dass ich nicht ausgerastet bin.
"Oh ja. Aber jetzt muss ich los, also sollten wir hier raus."
Ich verlasse vor ihm den Raum und Jim schließt ihn hinter uns wieder ab, dann drehe ich mich zu ihm. Er kommt zu mir, küsst mich nochmal auf den Mund und streicht mir über die Wange.
"Bis nachher Honey."
"Tschüß Jim", antworte ich und er geht zur Treppe. Wenig später bin ich alleine im Haus und lege mich wieder ins Bett um noch ein bisschen zu schlafen.

~~~

Als Jim wiederkommt, liege ich noch immer im Bett. Besser gesagt, schon wieder, denn ich habe kurz gebadet und bin danach wieder ins Bett gegangen. Ich bin nicht krank, aber ich habe das Bedürfnis mich auszuruhen, zumindest bis Jim zurückkommt.
Kaum höre ich seine Schlüssel unten klingeln, stehe ich auf und schaue nach unten. Hoffentlich will Jim nicht noch weiterarbeiten, denn mir ist noch eine sehr wichtige Frage eingefallen, die ich ihm stellen möchte. Und ich glaube die Antwort wird lang sein.
Ich habe Glück, denn als Jim hochkommt grinst er mich an und begrüßt mich liebevoll.
"Lagst du etwa bis gerade eben im Bett?", neckt er mich und ich lache.
"Naja, quasi schon, aber ich war heute schonmal auf."
"Na dann."
Er küsst mich auf den Mund, lockert seine Krawatte ein wenig und streicht sich einmal durch seine Haare.
"Und wie war dein Tag?", erkundige ich mich und seine Augen beginnen zu leuchten.
"Sehr gut! Mein Netzwerk wird immer größer und momentan sind die Klienten sogar annehmbar."
Ich lächle und er erzählt weiter von irgendwelchen Aufträgen die heute reingekommen sind. Wir setzen uns auf sein Bett, in dem ich den ganzen Tag verbracht habe weil es so gut nach ihm riecht.
"Redest du persönlich mit deinen Klienten?", frage ich nach und er schüttelt den Kopf.
"Nein, meistens über einen anonymen Chat oder Briefanweisungen."
Ich kuschele mich wieder in die Decke und zu meiner Überraschung zieht er sich sein Jackett aus und legt sich zu mir.
"So müde?"
"Wenn du wüsstest", antwortet er lächelnd und küsst mich wieder, dann schaut er mich an.
"Auch wenn der Tag schön war, einschüchtern muss ich manche Leute trotzdem."
"Wie bist du eigentlich so geworden? Also ich meine... zum Psychopathen?", frage ich nachdenklich, Jim dreht sich auf den Rücken und atmet langsam aus.
"Willst du das wirklich wissen? Es ist keine schöne Geschichte."
"Meine Vergangenheit ist auch keine schöne Geschichte", erinnere ich ihn und er schmunzelt kurz.
"Das stimmt."
Eine kleine Weile schweigt er und scheint sich zu sammeln, dann fängt er an mit leiser, aber fester Stimme zu sprechen.
"Mein Vater war ein Trinker und hatte deswegen öfter Probleme mit seinen Aggressionen. Anfangs hat er nur ein paar Sachen zerschlagen, Teller und sowas, doch dann fing er an meine Mutter zu schlagen. Jedes Mal wenn er zu mir wollte, hat sie sich zwischen ihn und mich gestellt, bis es irgendwann schiefging. Ich war zehn als er so betrunken nach Hause kam, dass er meine Mutter vor meinen Augen zu Tode prügelte."
Seine Stimme bricht, er schluckt und ich nehme seine Hand.
"Er tarnte es als Unfall und kam ohne eine Strafe davon, doch ich wusste was er getan hatte. Nach dem Tod meiner Mutter trank er noch mehr und kümmerte sich nur selten um etwas zu essen, oder Geld. Er fing schon bald an mich zu schlagen, damals konnte ich mich ja noch nicht wehren. Ich glaube da fing es an, mit dem Tod meiner Mutter vor meinen Augen und den Schlägen, dass ich anders dachte und mich abschottete. Es ist schon früh klar gewesen dass ich intelligenter als alle anderen war, und das machte meinen Vater rasend, zusammen mit noch anderen Dingen. Mit den Jahren wurde es immer schlimmer, es gab Tage da konnte ich kaum zur Schule gehen vor Schmerzen, doch ich quälte mich hin und tat so als wäre nichts. Doch in mir wuchs der Wunsch, mich an all jenen zu rächen, die mich jemals unterdrückt haben. Nachdem ich Carl Powers umgebracht hatte und nicht erwischt wurde, merkte ich dass ich ein Talent für solche Dinge hatte und beschäftigte mich ohne das Wissen meines Vaters intensiver mit Chemie und anderen Dingen. Mit siebzehn begann ich mich gegen ihn zu wehren, und erstach ihn mit einem Küchenmesser, doch es tat mir nicht leid. Ich war kalt und emotionslos geworden, so wie ich noch immer bin, und verschwand kurze Zeit nach dem Mord aus Irland und zog nach London. Anfangs war auch ich drogenabhängig, doch dann baute ich mein Netzwerk auf, knüpfte Kontakte und lernte immer mehr über die Welt des Verbrechens. Ich fand Gefallen daran, blühte förmlich auf, und es wurde schnell klar dass ich sehr gut darin war. Irgendwann, nur ein paar Jahre später traf ich Seb, und er wurde mein Sniper. Naja, ich musste ihn erst dazu 'überreden', aber danach wurden wir Freunde. Und so lebte ich mein Leben, nutzte meinen Verstand und suchte immer wieder nach neuen Herausforderungen. Ab und zu kam ich in die Situation dass ich eine Freundin hatte, doch das ging selten von mir aus, es sei denn ich wollte etwas von den Frauen. Doch es war mir egal wenn ich sie nicht liebte, nach wenigen Monaten waren sie sowieso wieder weg. Und das änderte sich als ich dich traf."
Er dreht den Kopf und schaut mich an.
"Normalerweise interessierten sich Frauen für mich, oder ignorierten mich, doch du hast mich von Anfang an abgelehnt. Du warst genauso verletzt wie ich, trugst die Narben deiner Vergangenheit mit dir herum, und das hat mich irgendwie... fasziniert. Aber ich hätte niemals geglaubt dass ich dich so sehr lieben könnte."
Er versucht zu lächeln, doch das misslingt ihm gründlich. Kein Wunder, wenn man wieder an solche Dinge denken musste.
"Das... das tut mir leid, Jim", sage ich leise, drehe mich zu ihm und schlinge meine Arme um ihn, woraufhin er leicht zusammenzuckt, doch dann erwidert er die Umarmung.
"Muss es nicht Mel. Wäre all das nicht geschehen wären wir jetzt nicht hier. Und das möchte ich nicht", meint er leise und sieht mir tief in die Augen. Dann legt er sanft seine Lippen auf meine und küsst mich mit so viel Gefühl, dass sich ein Kribbeln in meinem Körper ausbreitet.
"Ich habe Hunger", sage ich leise keuchend als wir uns wieder lösen und er lächelt.
"Okay, dann gehen wir jetzt runter und essen etwas."
Er küsst mich erneut, dann steht er auf und reicht mir die Hand.
Während wir nach unten gehen erinnere ich mich an eine andere Frage, die ich ihm stellen wollte.
"Was war eigentlich damals wirklich los als du halbnackt in meiner Wohnung standest?"
Überrascht schaut Jim mich an und kratzt sich am Kopf.
"Ach das meinst du. Du hast recht, meine Erklärung war gelogen. Mich haben zwei Männer verfolgt und ich habe sie in deine Wohnung geführt um die dort zu erledigen."
Er schweigt kurz und sieht mich an während wir in die Küche gehen.
"Es tut mir leid dass ich dich so oft angelogen habe", entschuldigt er sich leise und drückt meine Hand.
"Immerhin sagst du mir jetzt die Wahrheit", erinnere ich ihn und er nickt seufzend.
"Wenigstens das."

***

Moriarty In Love Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt