12. Katie Special

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Auf der Internetseite befindet sich nur ein einziges Video, und dieses wurde bisher nur einmal angeschaut. Ich bewege den Cursor darauf und starte das Abspielen.
Aufmerksam schaut Jim auf den Bildschirm und auch ich beobachte mein jüngeres Ich, welches mit einem jungen, blonden Mann unter anderen Paaren tanzt. Der Fokus des Videos liegt aber eindeutig auf uns und wir tanzen einige sehr schwere Figuren, die Vertrauen zum Partner erfordern.
"Das war Henry, er war ein netter Kerl. Wir haben uns manchmal getroffen und Figuren geübt", meine ich grinsend und Jim lächelt.
"Damals hatte ich noch keine Angst vor zu viel Körperkontakt", füge ich dann leise hinzu und schlucke. Mir wird schlagartig bewusst, dass ich mit Jim den meisten Körperkontakt mit einem Mann gehabt habe, seit ich Panik vor Männern habe.
Gerade kommt eine lustige Stelle in dem Video und Jim lacht leise.
Ich sitze neben einem Mann, im Haus dieses Mannes, erzähle ihm von mir, zeige ihm Bilder und Videos von mir und vertraue ihm. Doch so schlimm finde ich das gar nicht.
Schließlich ist das Video zu Ende und Jim nickt anerkennend mit dem Kopf.
"Wow, du bist echt gut."
"War", verbessere ich ihn, doch er schüttelt den Kopf.
"Das kannst du doch immernoch."
"Naja...", meine ich und wiege meinen Kopf hin und her.
"Manches, aber gewiss nicht alles."
"Unsinn, du bist so talentiert, das muss einfach alles noch da sein. Dich könnte man bestimmt toll führen..."
"Ähm...", mache ich und Jim grinst.
"Keine Sorge, ich hatte nicht vor es heute auszuprobieren. Aber rein theoretisch, wenn ich dich auf einen Tanzabend einladen würde, würdest du hingehen und mit mir tanzen?"
Da muss ich kurz überlegen, doch dann nicke ich zaghaft.
"Ich weiß nicht, aber eigentlich ja. Du bist ja kein Fremder."
"Oh, danke", meint er geschmeichelt und lächelt. Ich lächle zurück und schaue dann wieder auf den Bildschirm.
"Gibt es auch Videos von dir?", frage ich um vom Thema abzulenken.
"Ähm, ich glaube nicht", antwortet er und schließt den Browser. Er macht den Laptop aus, legt ihn auf Seite und streckt sich einmal.
"Was wollen wir jetzt machen?"
Ich zucke mit den Schultern.
"Keine Ahnung."
Da klingelt plötzlich mein Handy und ich gehe verwundert ran.
"Hallo?"
"Hey, Mel! Ich bins, ich störe doch nicht, oder?"
Lachend lehne ich mich zurück.
"Nein, zumindest bei nichts wichtigem."
"Sehr gut, ich muss dir nämlich was ganz wichtiges erzählen. Bist du gerade zu Hause?"
"Nein, ehrlich gesagt bin ich das nicht."
"Wo bist du denn dann? Ich höre keine Straße oder andere Menschen, also bist du irgendwo drin. Ist alles in Ordnung?"
"Ja, keine Sorge Katie. Ich bin nur..."
Ich schaue zu Jim hinüber, der mich aufmerksam und neugierig beobachtet.
"... bei einem Freund."
"OH MEIN GOTT!", kreischt Katie in den Hörer und ich halte mein Handy erschrocken von mir weg.
"Katie, beruhige dich!", sage ich streng und warte ängstlich auf weitere Schreie. Doch die kommen nicht.
"Ist das der von dem du mir erzählt hast?", fragt sie aufgeregt und ich antworte leise:
"Ja."
"Ich will mit ihm sprechen!"
"Das kommt gar nicht in Frage!"
"Ach komm schon Mel. Du kannst doch einfach auf laut machen", bettelt sie und ich seufze.
"Na gut, aber nicht lange. Und untersteh dich irgendwelche Andeutungen zu machen!", willige ich schließlich ein und nehme das Handy vom Ohr. Ich drücke den Knopf mit dem Lautsprecher und Jim neigt fragend den Kopf zur Seite als ich ihn anschaue. Dabei sieht er so niedlich aus, dass ich für einen winzigen Moment einfach erstarre, doch dann wende ich den Blick wieder auf mein Handy.
"Hallo, hörst du uns?"
"Naja, genaugenommen nur dich, aber ja!", ruft Katie fröhlich zurück und ich muss grinsen.
"Jim, sie will einfach nur wissen wer du bist. Also, eigentlich will sie nur sichergehen dass es mir gut geht."
"Ist schon Okay", erwidert er leise.
"Hey, was tuschelt ihr da?! Ich kann euch hören."
"Ich weiß, Katie", meine ich lachend und Jim grinst.
"Hi!", sagt er in Richtung Handy und Katie am anderen Ende lacht leise.
"Uh, schöne Stimme. Und wie heißt du?"
"Jim. Und du bist Katie, stimmt's?"
"Ja, Melody ist meine beste Freundin. Ach Mel, hast du's ihm erzählt oder...?"
"Er weiß Bescheid."
"Die ganze Geschichte?"
"Alles. Glaube ich zumindest", antwortet Jim an meiner Stelle und ich schaue ihn überrascht an.
"Katie, ich wollte dir danken, dass du Mel wieder hingekriegt hast. Sonst könnten wir nicht miteinander reden."
"Ja, ich bin auch zufrieden mit dem Ergebnis, obwohl sie für meinen Geschmack noch etwas zu zaghaft gegenüber Männern ist. Vielleicht kommt das ja noch bald."
"Ey! Ich bin auch noch hier!", protestiere ich und verschränke die Arme vor der Brust, doch Katie redet einfach weiter.
"Hast du gerade Mel gesagt?"
"Ja", antwortet Jim mit einem Seitenblick auf mich.
"Sie hat es dir erlaubt?!"
"Ja."
"Oha, das ist schonmal ein großer Fortschritt."
"Hallo, Katie? Ich bin noch da!", schnaube ich wütend und spüre wie sehr es mich stört dass Katie mich ignoriert. Gleichzeitig merke ich wie angespannt und gestresst ich bin.
"Jim, vielleicht wird das zwischen euch-"
Da springe ich vom Sofa auf und renne in Richtung Treppe.
"Melody!?", ruft Jim mir überrascht hinterher, doch ich komme nicht wieder zurück. Stattdessen laufe ich nach oben und in das Gästezimmer.
Katie ist zwar meine beste Freundin, doch manchmal ist sie echt nervig und auch doof. Zumindest wenn ich nervlich am Ende bin.
Ich setze mich mit dem Rücken an die Wand gelehnt aufs Bett, winkele meine Beine an und lege meinen Kopf auf meine Knie. Meine Arme umschlingen meine Beine und ich wippe ein wenig nach vorne und wieder zurück um nicht auszurasten. Die Erlebnisse der letzten Tage dringen mit Wucht auf mich ein und ich fühle mich elend. Zitternd sitze ich auf dem Bett und versuche nicht zu weinen. Da höre ich Schritte auf der Treppe und dass Jemand ins Zimmer kommt.
"Melody?", fragt Jims sanfte Stimme besorgt und er kommt näher. Etwas legt er aufs Bett und setzt sich vorsichtig neben mich. Sanft legt er mir seine Hand auf den Rücken und hebt seine Beine auch noch aufs Bett. Mein Zittern verstärkt sich.
"Hey", meint er leise und legt seinen Arm um meine Schultern.
"Das war doch nicht böse gemeint."
"Das ist es nicht Jim", sage ich dumpf und schaue ihn dann an.
"Ich stehe unter Spannung, die ganze Zeit. All diese... Dinge, die mir passiert sind, das alles ist zu viel für mich. Und dann auch noch deine Nähe, allein deine Gegenwart ist anstrengend für mich Jim."
"Aber nur so lernst du", erwidert er und ich seufze.
"Melody? Darf ich mit dir reden?", tönt es da plötzlich aus meinem Handy, das Jim aufs Bett gelegt hat, und ich erschrecke leicht.
"Ja, klar", sage ich lauter und nehme das Handy in die Hand.
"Es tut mir leid falls ich dich verletzt haben sollte, aber ich merke doch, dass etwas schlimmes passiert ist."
"Da hast du recht", antworte ich und schniefe kurz.
"Aww, ich möchte dich am liebsten knuddeln, aber das geht ja so schlecht durchs Telefon. Jim, mach du das für mich!"
"Was?", fragt dieser verwirrt und Katie lacht.
"Schon gut, du brauchst nicht zu erschrecken. So, Mel, erzähl, ich bin für dich da."
"Okay."
Ich hole tief Luft, schalte das Handy auf normal und hebe es ans Ohr.
"Auf der Arbeit gab es einen Neuen. Er war komisch, aber in Ordnung. Ich meine, er hat nichts seltsames getan, er wirkte nur komisch. Er hieß Mike. Jedenfalls kam er am Freitag nach Ende meiner Schicht in die Damenumkleide. Ich habe ihn darauf hingewiesen, doch er ist nicht gegangen. Stattdessen ist er näher zu mir gekommen und hat ein Messer gezogen."
Ich schließe kurz die Augen um die Erinnerungen zu verdrängen und atme zitternd aus. Jim streicht mir mit der Hand über den Rücken.
"Naja, er hat mich bedroht. Da haben Polizisten das Gebäude gestürmt, weil es sich bei Mike um einen Vergewaltiger und Mörder handelte. Ich bin sofort nach Hause, aber ich hatte solche Panik, dass ich kaum klar denken konnte. Also habe ich meine Notlösung benutzt", spreche ich schließlich weiter.
Ein entsetztes Keuchen ist zu hören und Katie stöhnt gequält auf. Sofort habe ich Schuldgefühle und beiße mir auf die Unterlippe.
"Das dumme war nur, dass die Dosis zu hoch war. Ich habe beinahe sofort das Bewusstsein verloren und schwebte wohl für kurze Zeit in Lebensgefahr. Jim hat mich da rausgeholt und seit Freitagnacht wohne ich bei ihm in seinem Haus."
"Oh Gott, Mel! Ehrlich, du tust mir so verdammt leid, ich wünschte ich könnte irgendetwas tun! Das muss ja enormer Stress für dich sein, jetzt verstehe ich warum du so überreagiert hast."
"Zumindest ist Jim kein Fremder, ich kenne ihn ja seit zwei Monaten."
"Ja, wenigstens das. Apropos, dürfte ich ihn mal kurz sprechen?"
"Klar."
Ich reiche Jim das Handy und er nimmt seinen Arm von meinen Schultern.
"Sie möchte mit dir sprechen", murmele ich und stehe vom Bett auf. Langsam gehe ich zum Fenster während Jim am Handy mit Katie redet.
Nach etwa fünf Minuten beendet Jim das Gespräch und kommt von hinten auf mich zu. Ich schaue nachdenklich aus dem Fenster, aber ich sehe die Aussicht gar nicht.
"Und was wollte Katie?", frage ich leise und Jim antwortet.
"Sie hat sich bei mir bedankt, mir eingeschärft dir nicht wehzutun und dir zu helfen. Ausserdem hat sie mir einen Auftrag erteilt."
"Einen Auftrag?", frage ich überrascht und drehe mich zu ihn um. Er hat das Handy auf dem Bett gelassen und steht etwa eineinhalb Meter vor mir.
"Ja, einen ganz wichtigen."
Da breitet er die Arme aus und grinst schief.
"Spezial Katie Umarmung nannte sie es."
Da muss ich schmunzeln und trete zögernd auf ihn zu. Aufmerksam beobachtet Jim mich und wartet geduldig.
Ich gebe mir einen Ruck, lege sacht meine Arme um ihn und Jim legt seine Arme um mich. Vorsichtig zieht er mich zu sich, sodass ich mich gegen ihn lehne und ich zucke zusammen, lasse es dann aber geschehen. Unwillkürlich schmiege ich mich sogar an ihn und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. Er riecht dezent nach Männerdeo, aber auch nach ihm. Ich weiß nicht wie ich diesen Geruch beschreiben soll, aber es ist ein angenehmer Geruch.
Jim hält mich nun etwas fester und legt sein Kinn an meinen Kopf.
"Das ist aber keine Spezial Katie Umarmung", murmele ich an seiner Schulter und er lacht ohne Laut.
"Wirklich? Was ist das dann?"
"Eine Jim Umarmung", erwidere ich und er legt eine Hand sanft an meinen Hinterkopf.
"Und ist sie gut oder schlecht?", fragt er flüsternd und ich zucke mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Ich hatte noch nicht viele Vergleiche."
"Hast du denn keine Angst?"
"Wovor sollte ich denn Angst haben? Du tust mir nichts, das habe ich mittlerweile begriffen."
Ich hebe den Kopf und schaue ihn an. Jim lächelt leicht, dann lässt er mich los.
"Das freut mich. So, aber jetzt sollten wir etwas essen und dann am besten ins Bett gehen. Du siehst müde aus."
"Bin ich auch", meine ich und gähne wie auf Kommando. Da lacht Jim und geht in Richtung Treppe.
"Ich gehe runter in die Küche und schaue was ich so da habe an essbaren Sachen."
"Okay, das hört sich super an. Ich komme gleich nach."
Er nickt und verlässt dann den Raum. Ich höre seine Schritte auf der Treppe bis sie unten sind und lasse mich rücklings auf mein Bett fallen. Während ich versuche meine Gedanken zu ordnen starre ich lediglich an die Decke. Ich kann meine Reaktion nicht verstehen und gebe es deshalb bereits nach kurzer Zeit auf. Aber Jim muss mich doch für total bekloppt halten, erst bin ich mega ängstlich, dann kuschele ich mit ihm.
Unten in der Küche öffnet Jim gerade den Backofen und holt einige Bleche heraus.
"Momentan habe ich nur Tiefkühlpizza, ich hoffe das ist nicht schlimm", meint er als ich durch die Tür herein komme und mich kurzerhand auf die Ablage setze. Er scheint nichts dagegen zu haben, also bleibe ich wo ich bin.
"Nein, ist absolut in Ordnung. Ich achte nicht auf die Anzahl der Kalorien in meinem Essen", erwidere ich und grinse. Auch Jim lächelt und schaltet den Ofen an.
"Also, ich habe hier Thunfisch, Salami oder Spinat. Welche magst du am liebsten?"
Ich zucke mit den Schultern.
"Mir egal, du bist der Herr im Haus. Ich nehme das was du nicht willst."
"Och menno, ich hatte gehofft du würdest mir die Wahl erleichtern."
"Tja, Pech gehabt", meine ich lachend, Jim zieht die Mundwinkel herunter und schaut mich aus großen dunklen Augen an.
"Na gut", gebe ich schließlich grinsend nach und deute auf die Salami-Pizza.
"Meine."
"Okay, danke."
Grinsend packt er die Packung mit der Thunfisch-Pizza wieder in das Gefrierfach.

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Moriarty In Love Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt