10. Leben bei Jim

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Als er mich endlich loslässt bleibe ich erstmal stocksteif stehen und schaue ihn mit großen Augen an.
"Warum hast du das gemacht?", frage ich leise und schniefe kurz. Jim tritt zurück und setzt sich wieder auf den Drehstuhl.
"Irgendwann musst du beginnen deine Angst wirklich ganz abzubauen. Das geht doch nicht dass so eine hübsche junge Frau wie du keinen Freund haben kann", meint er mit einem schiefen Grinsen und ich senke den Blick.
"Ich danke dir", wispere ich und schaue auf meine Hände.
"Weißt du, du bist der erste Mensch der mir so begegnet, der mir zuhört und mich so akzeptiert wie ich bin. Noch nie hat jemand sich so um mich gesorgt."
Ich lächle kurz, dann huste ich ein paar Mal trocken und Jim steht wieder auf.
"Ich glaube, du hast dir eine Erkältung eingefangen. Du bist ungewöhnlich warm und siehst krank aus", meint er zu mir und ich nicke.
"Aber ich kann doch nicht hier bleiben."
Überrascht schaut er mich an.
"Wieso denn nicht?"
"Es ist doch dein Haus und so. Ausserdem, wenn du Besuch bekommst oder sowas, da störe ich doch nur", antworte ich und schaue auf den Boden.
"Was denn für Besuch?", fragt Jim irritiert nach und schaut mich fragend an. Wie kann man nur so begriffsstutzig sein.
"Naja, zum Beispiel Frauenbesuch", erwidere ich schüchtern.
"Oh, das meinst du", erkennt Jim und lacht verlegen.
"Ich habe keinen Frauenbesuch. Naja bis auf dich, aber du bist ja kein Frauenbesuch im eigentlichen Sinne."
"Heißt das du hast keine Freundin?"
"Genau das heißt das. Ist ja auch egal, du musst wieder ins Bett."
"Aber das geht doch nicht-"
"Keine Widerrede. Mein Haus, meine Regeln. Du bleibst und gehst dich jetzt ausruhen", unterbricht er mich und steht auf.
"Na gut. Unter Protest", murmele ich, mich geschlagen gebend und trotte zur Tür hinaus auf den Flur. Leise lachend folgt Jim mir in das Zimmer, in dem ich heute aufgewacht bin und geht sofort zum Fenster. Er zieht die Vorhänge zurück und öffnet das Fenster um frische Luft herein zu lassen.
"Ich bin aber gar nicht müde", starte ich einen letzten Versuch, doch Jim schaut mich skeptisch an.  
"Leg dich wieder hin."
"Und was ist mit Kleidung?", frage ich schnell, da kommt Jim auf mich zu und schubst mich auf das Bett. Erschrocken rolle ich mich ab und stehe nun kampfbereit auf der anderen Seite des Betts. Überrascht schaut Jim mich an und hebt entschuldigend die Hände.
"Mach das nie wieder", sage ich fest und er nickt.
"Gute Reflexe", meint er und tritt einen Schritt zurück. Ich verdrehe genervt die Augen und schaue ihn wütend an.
"Hör auf dich über mich lustig zu machen! Das ist mir ernst, sehr ernst sogar. Du hast zweimal schon die Grenze überschritten und ich bin kurz vor einer Panikattacke, okay?!"
Ich atme tief durch und versuche nicht daran zu denken wie nah er mir schon war.
"Okay. Tut mir leid", antwortet Jim kleinlaut und senkt betroffen den Kopf. Sofort tut er mir ein wenig leid.
"Schon in Ordnung. Mach es nur nicht wieder."
Ich lasse mich auf das Bett fallen und setze mich mit dem Rücken zu ihm hin, um meine zitternden Hände vor ihm zu verbergen.
"Ich bin kurz duschen dann bin ich unten, falls du was brauchst. Sag dann einfach Bescheid", sagt Jim und ich nicke, dann schließt er die Tür und ich bin alleine. Augenblicklich breitet sich das Zittern auf meinen gesamten Körper aus und ich muss ein trockenes Schluchzen zurückhalten.
Es dauert eine Weile bis ich mich wieder beruhigt habe, aber dann lege ich mich auf das Bett und starre an die Decke. Langsam senkt sich dann doch eine schwere Müdigkeit auf mich hinunter und ich mache die Augen zu. Schon kurze Zeit später bin ich eingeschlafen.

~~~

Als ich wieder aufwache, sind die Vorhänge zugezogen und das Fenster ist zu. Anscheinend war Jim kurz noch mal bei mir um nach mir zu schauen. Ob ich mich darüber freuen oder Angst haben sollte weiß ich im Moment nicht.
Vorsichtig setze ich mich hin und reibe mir die Augen. Ich will gar nicht wissen wie schlimm ich gerade aussehe.
Ich stehe auf und wanke kurz, weil sich der Raum um mich zu drehen scheint, doch dann ist dieser Moment schon vorbei und ich gehe zur Tür. Die vertrauten Nebenwirkungen meines Drogenrausches blende ich gekonnt aus und trete auf den Flur hinaus. Mit den Fingern fahre ich mir durch die Haare während ich langsam die Treppe nach unten gehe und mich dabei neugierig umschaue.
Die Wohnung, oder besser das Haus, sieht einfach aber hell und freundlich aus und ich gehe auf Socken bis zum Fuß der Treppe. Ich befinde mich in einem Flur, der mit grauem Teppich ausgelegt ist, und vor mir befindet sich ein offener Durchgang, durch den ich ein grau-braunes Sofa sehen kann. Rechts von der Treppe befindet sich noch eine Tür, und zwar zu einer Küche. Doch aus dem Raum mit dem Sofa, offenkundig das Wohnzimmer, dringt mir die wütende Stimme von Jim entgegen, anscheinend telefoniert er gerade mit irgendjemandem.
"Nein, jetzt hören sie zu! Wenn sie diesen Auftrag nicht innerhalb von 24 Stunden erledigt haben, reiße ich ihnen jedes Haar mit Freuden einzeln aus. Also, erledigen sie den Job oder muss ich deutlicher werden?"
Erschrocken über seine Ausdrucksweise bleibe ich stehen und lausche weiterhin, auch wenn mein Bauchgefühl mir sagt, dass dieses Gespräch nicht für meine Ohren gedacht ist.
Die Person am anderen Ende der Leitung scheint etwas zu erwidern, denn schließlich seufzt Jim auf und tritt nun in mein Sichtfeld, aber mit dem Rücken zu mir.
"Sehr gut. Wenn ich am Montag wiederkomme will ich, dass alles erledigt ist, haben sie mich verstanden? Sonst können sie gerne an einer Schießbude arbeiten!"
Dann legt er auf, legt das Handy weg und fährt sich mit einer Hand durch die nun gegeelten Haare. Er trägt eine Bluejeans, ein weißes Muskelshirt und einen dunkelblauen Hoodie darüber. Braune Socken schützen seine Füße.
Ich beschließe, nun nach unten zu gehen und so zu tun, als hätte ich nichts von dem Telefonat mitbekommen, zumindest nichts wichtiges.
"Hallo", sage ich leise und stelle mich ans Ende der Treppe, da dreht sich Jim überrascht zu mir um.
"Ach, Melody. Hi, schön dass du auf bist."
Er greift nach etwas auf dem Boden neben dem Sofa und reicht mir dann eine braune Papiertüte.
"Hier, ich hoffe dir passen die Sachen. Shampoo ist da auch drin, weil ich nicht wusste, ob du gerne so riechen würdest wie ich. Also nach Männershampoo."
Er lächelt verschmitzt und ich nehme die Tüte an.
"Das sind ja meine Sachen", sage ich nach einem kurzen Blick hinein und schaue ihn fragend an.
"Natürlich. Hätte ich dir etwas gegeben, was ich für dich gekauft hätte, hättest du es nicht angenommen. Ausserdem fühlst du dich mit vertrauten Dingen gleich ein wenig wohler", antwortet er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass er einfach mal meine Sachen bei sich zu Hause hat.
"Ich verstehe warum du das gemacht hast, aber woher hast du die?"
"Sebastian war bei deiner Wohnung und hat sie geholt. Keine Sorge, er hat sonst nichts angefasst, du wirst alles so vorfinden wie du es verlassen hast."
"Du weißt wo ich wohne?"
"Yep."
"Und... Sebastian ist da einfach so reingelaufen?"
"Denke ich mal, ja."
"Aha."
Ich nicke und schaue auf die Tüte in meinen Händen.
"Danke."
"Nichts zu danken. Geht es dir besser?"
Ich nicke wieder und schaue Jim wieder in die Augen. Er sieht gut aus, das wird mir erst jetzt bewusst.
"Ja, mir ist nur etwas schwummrig, aber das ist normal."
Jim mustert mich und nickt langsam.
"Mhm. Sag mal, wieso hast du gestern denn Drogen genommen? Ich meine, wo du doch so lange clean warst."
Ich hole tief Luft.
"Bei der Arbeit gab es doch diesen Mike, ich habe dir von ihm erzählt. Er hat mich gestern nach Feierabend in der Umkleidekabine aufgehalten und bedroht. Weißt du noch der Artikel in der Zeitung mit der Vergewaltigung und dem anschließenden Mord an den beiden jungen Frauen?"
Jim nickt, scheint aber schon zu wissen auf was ich hinauswill.
"Jedenfalls, Mike ist dieser Verrückte. Und er hatte dasselbe mit mir vor. Wäre die Polizei nicht rechtzeitig gekommen stände ich jetzt nicht hier."
"Oh. Und Mike hat unerwünschte Erinnerungen wachgerufen, weswegen du wieder Panik bekommen hast. Die Situation hat dich so sehr an damals erinnert, dass du dir nicht anders zu helfen wusstest, ausser mit Drogen für eine Weile der Qual zu entkommen", schlussfolgert Jim und ich lächle schwach.
"Brilliant kombiniert."
"Danke", erwidert er und lächelt kurz zurück.
"Hast du Hunger? Ich würde nämlich jetzt was kleines machen, weil ich heute auch noch nicht richtig gegessen habe."
"Ja, danke, das wäre super."
"Sehr gut. Ach ja, die Dusche ist dort vorne", fügt er hinzu, bevor ich danach fragen kann. Erstaunt schaue ich ihn an.
"Hellseher", murmele ich und gehe dann in die angegebene Richtung, zusammen mit meiner Tüte, während Jim an mir vorbei zur Küche geht. Als er an mir vorbeikommt, kann ich den dezenten Duft seines Shampoos riechen, sowie das Männerdeo, was ich bereits oben in dem Gästezimmer gerochen habe.
Das Badezimmer grenzt rechts von mir an das Wohnzimmer an und ist groß, mit einem verwaschenen Fenster, zwei Waschbecken, großer Badewanne und Duschkabine. Ein weicher, großer Teppich liegt am Boden vor der Duschkabine, er soll wahrscheinlich verhindern, dass die Fliesen nass und rutschig werden.
Ich stelle meine Tüte ab und schaue mich kurz um, dann gehe ich ins Wohnzimmer zurück.
"Jim?", frage ich schüchtern und er kommt aus der Küche in den Flur zurück.
"Ist etwas?"
"Nein, nicht wirklich... ich wollte nur fragen ob du vielleicht einen Schlüssel für die Badezimmertür hast", frage ich verlegen und beiße mir auf die Unterlippe. Für einen Moment überlegt Jim verwirrt, dann versteht er und geht zum Schlüsselbrett an der Wand neben der Haustür. Er nimmt einen Schlüssel vom Haken und kommt zu mir zurück.
"Hier. Keine Sorge, ich verstehe deine Gründe, aber ich möchte dass du eines weißt:"
Er schaut mich ernst an.
"Ich werde niemals etwas tun was du nicht möchtest, geschweige denn dass ich dich bespanne oder verletze, okay?"
Ich nicke.
"Darf ich den Schlüssel trotzdem haben?"
Da lacht er und gibt ihn mir.
"Na klar. Komm in die Küche wenn du fertig bist."
Ich lächle scheu und verschwinde wieder im Bad.
Die Sachen in der Tüte sind mein Lieblingspulli, ein T-shirt, BH, Unterhose und eine Jeans, sowie Socken. Eine Bürste, mein Shampoo, meine Zahnbürste und Zahnpasta liegen in einem kleinen Kulturbeutel, den ich normalerweise nicht brauche, da ich so gut wie nie bei jemandem anders übernachtet habe.
Bei dem Gedanken, dass ein mir vollkommen fremder Mann in meinen Sachen herumgewühlt und auch noch die richtigen Dinge mitgebracht hat, wird mir ein wenig mulmig zu Mute, doch ich schließe die Tür ab, suche mir ein Handtuch und beginne mich auszuziehen. Da entdecke ich mein Spiegelbild im Spiegel über dem ersten Waschbecken und erstarre. Meine braunen Haare sind wirr und matt, mein Gesicht ist totenblass und um meine Augen liegen tiefe, dunkle Ringe. Meine sonst strahlenden, grünen Augen sind glanzlos und wirken abwesend.
Ich schlucke, nehme die Bürste und bändige meine Haare einigermaßen, dann steige ich unter die Dusche. Die Shampoos, die dort stehen, sind teure Männershampoos und unwillkürlich fühle ich mich ein wenig unwohl. Doch dann schüttele ich diese Gedanken ab und dusche mich.
Zehn Minuten später wickele ich mich in das große, gelbe Handtuch und atme den vertrauten Geruch meines Shampoos ein. Dann trockne ich mich ab, bürste mir erneut die Haare und beginne mich anzuziehen.
Plötzlich klopft es an der Tür und ich zucke vor Schreck zusammen. Es ist Jim.
"Melody?", fragt er gedämpft durch die Tür und ich lege mir unwillkürlich das Handtuch um die Schultern.
"Ja?", frage ich nervös zurück und schaue ängstlich zum Türgriff.
"Alles okay, ich will nur wissen ob du gegen irgendwas allergisch bist. Sonst mixe ich dich noch zu Tode mit meinem Essen", beruhigt er mich lachend und ich muss grinsen.
"Nein, nicht dass ich wüsste. Aber Finger weg von Tintenfischen! Ich bringe es nicht übers Herz die kleinen Tentakel zu essen."
"In Ordnung. Sonst irgendwelche seltsamen Essgewohnheiten?", fragt er und ich höre das Grinsen aus seiner Stimme heraus.
"Naja, vor jedem Essen gieße ich das Blut eines Mannes über mein Gericht und verfluche alle männlichen Wesen auf dieser Welt, aber sonst nichts besonderes."
"Alles klar", meint er lachend, da fällt mir etwas ein.
"Jim, hast du einen Fön oder ähnliches?"
"Ja, unter dem rechten Waschbecken."
"Gut, danke."
"Gern geschehen."
Ich höre, wie sich seine Schritte von der Tür entfernen und ziehe mich weiter an. Schließlich hole ich den Fön hervor und trockne mir meine Haare, bis sie wieder braun und glänzend sind. Ich räume alles wieder weg, hänge das Handtuch an einen Trockenständer in der Wand und öffne das Fenster. Dann schließe ich die Tür auf und komme mit meiner Papiertüte, in der meine alten Sachen liegen, wieder hervor.
Im Flur und im Wohnzimmer riecht es verführerisch nach gebackenem Toast mit Ei, Tomaten, Käse und Speck. Neugierig gehe ich in die Küche, in der Jim gerade dabei ist, einen Teller mit mehreren Toasts auf den braunen Küchentisch zu stellen. Die Küche ist schön groß und modern, mit einem Edelstahl Kühlschrank und Mikrowelle, sowie hochwertigem Herd und Backofen.
"Perfektes Timing", meint Jim grinsend, stellt zwei Teller mit Besteck auf den Tisch und deutet auf einen Stuhl.
"Setz dich ruhig."
Ich stelle die Tüte ab und lasse mich auf den angewiesenen Stuhl sinken. Neugierig, aber irgendwie befangen schaue ich mich um, die Hände in meinem Schoß. Es ist nur Jim, kein Fremder.
"Nimm dir etwas zu essen. Keine Angst, es ist genießbar, glaube ich zumindest."
Da muss ich wieder grinsen und greife nach einem Toast.
"Hast du die selbst gemacht?"
"Nope, das da hat mir geholfen. Ich habs nicht so mit dem Kochen", antwortet Jim lächelnd und zeigt auf ein kleines Kochbuch auf der Ablage.
"Dafür schmeckt es aber echt gut", meine ich anerkennend, nachdem ich den ersten Bissen von meinem Toast probiert habe. Wegen der Tomate ist es besser, die Toasts mit Messer und Gabel zu essen.
"Vielen Dank", antwortet er und isst selbst etwas. So sitzen wir eine Weile lang schweigend da und essen.

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Moriarty In Love Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt