53. Leben

795 62 3
                                    

Im Bus setze ich mich in eine Ecke auf einen freien Platz und ignoriere die Blicke, die mir zugeworfen werden. Die Tränen sind mittlerweile getrocknet, aber man sieht dass ich geweint habe. Sollen die sich um ihren eigenen Kram kümmern. Die meisten von ihnen rennen doch auch jeden Tag mit so einer Grimasse herum, warum starren die mich dann so an?!
Mühsam zügele ich meine Wut und warte bis ich aussteigen muss, dann bin ich die Blicke los.
Mein Weg von der Haltestelle nach Hause dauert nur zehn Minuten, und während dieser zehn Minuten beginnt es leicht zu schneien. Doch anders als an Weihnachten freue ich mich nicht darüber, stattdessen werde ich an die schöne Zeit mit Jim erinnert und empfinde wieder Schmerz über seinen Verlust. Denn verloren habe ich ihn.
Als ich endlich zu Hause bin, hole ich mein Handy aus meiner Manteltasche und verkrieche mich ins Bad, dem einzigen Ort an dem ich nicht zu viel mit Jim verbinde. Und dort beginne ich zu weinen, laut und lange. Ich kauere mich auf dem Boden zusammen, schlinge meine Arme um meine Beine und vergrabe mein Gesicht im Stoff meines Pullis. Es tut so weh, so weh, zu wissen dass er gelogen hat, und zwar auf jede erdenkliche Weise. In mir herrscht Chaos und ich schaffe es nicht den Schmerz und die Trauer aufzuhalten, sondern werde davon überrollt.
Ich habe keine Ahnung wie lange ich daliege, aber irgendwann klingelt mein Handy und ich schaue auf. Es ist Katie.
"Hey Mel! Wie geht's dir?", fragt sie fröhlich und unwillkürlich habe ich Skrupel ihre gute Laune zu zerstören.
"Melody?"
"Hi Katie", antworte ich nach einer Weile mit belegter Stimme und wische mir mit der anderen Hand einige Tränen von den Wangen.
"Oh Gott, weinst du? Mel, was ist passiert?", erkundigt sich Katie mit besorgter Stimme und ich schniefe.
"Ich habe mich von Jim getrennt", sage ich leise und schlucke. Bei diesem Satz kommen mir schon wieder die Tränen und mein Hals ist wie zugeschnürt.
"Was?"
Kurz herrscht Schweigen.
"Wieso denn das? Hat er dir wehgetan? Oder dich betrogen?"
"Betrogen kommt dem schon sehr nahe. Und verletzt hat er mich auf jeden Fall."
"Er hat dich mit einer anderen Frau betrogen?"
"Nein, das nicht. Aber er hat mich belogen, die ganze Zeit. Ich komme mir so dumm vor, Katie."
Ich beginne leise zu schluchzen.
"Oh Mel... es tut mir so leid. Inwiefern hat er dich denn belogen? Und jetzt sag bloß nicht er ist schon verheiratet!"
"Nein, das nicht", meine ich mit einem kurzen Lächeln.
"Er hat... gelogen was seine Arbeit anbelangt... und auch ihn selbst."
Ich zögere Katie davon zu erzählen dass Jim... ein Psychopath ist, denn dann würde sie sich richtig Sorgen machen.
"Seine Arbeit und er selbst?"
"Gespaltene Persönlichkeit", murmele ich, in der Hoffnung dass das der Wahrheit entspricht. Denn alles andere würde heißen, dass er mir mehrere Monate lang etwas vorgespielt hat.
"Was? Jim und...? Das hätte ich nie gedacht!"
Ich seufze schwer.
"Katie, ich auch nicht. Es war ein bisschen wie in diesen Filmen, in denen der Mann erst perfekt, und danach immer seltsamer wird."
"Nein! Boah, ich hasse ihn gerade so sehr!"
Sie schimpft noch eine Weile lang weiter und ich höre ihr schweigend zu.
"Aber du wirst doch nicht... wieder abrutschen, oder?"
"Nein, auf keinen Fall. Mit Drogen bin ich durch", erwidere ich überzeugt und Katie seufzt erleichtert.
"Ein Glück. Sag mal, wo bist du eigentlich? Es hallt so komisch bei dir."
"Ich bin im Bad."
"Im Bad? Warum denn da?"
"Alles andere erinnert mich an ihn."
"Oh."
Eine Weile lang schweigen wir und ich stehe langsam auf.
"Wie wäre es wenn ich für eine Woche oder so zu dir käme?", erkundigt Katie sich schließlich und ich gehe durch den Flur in mein Zimmer. Dabei merke ich, dass es bereits dunkel ist und schalte das Licht an.
"Das wäre super, aber geht das denn?"
"Nun hör mal! Geld ist kein Problem."
"Das meine ich nicht, sondern wegen des Kindes?"
"Oh... da müsste ich nachfragen."
Ich lasse mich auf mein Bett fallen und verhindere krampfhaft dass wieder Erinnerungen hochkommen.
"Mach das. Ich fände es schön wenn du kommen würdest, aber wenn es nicht geht ist das auch okay."
"Nichts ist okay! Meine beste Freundin wurde von ihrem ersten Freund, der ein verdammter Mistkerl ist, belogen! Ich sag dir, wenn ich den in die Finger kriege..."
"Das will ich nicht erleben", sage ich leise und Katie seufzt.
"Ich würde ja sagen, vergiss ihn, aber ich weiß wie schwer das ist, vorallem wenn es so eine... intensive Beziehung war und du ihn so innig geliebt hast."
"Ich liebe ihn immernoch."
"Ich weiß", meint Katie sanft.
"Und ich fürchte, das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben. Versuch einfach weiterzuleben, geh vielleicht ein bisschen unter Menschen und triff neue Leute."
"Ich werds versuchen, aber versprechen kann ich nichts."
"Das sollst du ja auch gar nicht."
Plötzlich piept mein Handy und ich schaue kurz auf das Display.
"Katie, mein Akku ist gleich leer."
"Argh, diese blöde Technik! Kapiert die denn nicht dass das hier ein Notfall ist? Handys sind doof."
"Ja, sind sie. Dann bis bald."
"Bis bald Mel. Ich schreibe dir ob ich kommen kann, okay?"
"Ja, in Ordnung. Tschüß."
"Tschüß."
Gerade als ich auflegen will, wird der Bildschirm meines Handys schwarz und es schaltet sich aus. Das Handy, das Jim mir geschenkt hat.
Mein Blick schweift durch mein Zimmer und unwillkürlich erinnere ich mich daran, wie wir die Wände gestrichen und die Möbel hier reingetragen haben. Den Schrank, den wir in mühseliger Arbeit an der Wand befestigt und das Bett in dem wir morgens gekuschelt haben. Das Sofa im Wohnzimmer, das Gästezimmer, die Küche, alles erinnert mich an Jim. Und das tut weh.

***

Die nächsten Wochen gehe ich zur Arbeit, kaufe ein und lebe mein Leben. Es ist anfangs hart, so ohne Jim, aber ich schaffe es allmählich immer besser, bis ich irgendwann nicht mehr abends heulend im Bett liege. Katie kann leider nicht kommen, aber dafür telefonieren wir so oft es eben geht und langsam gewöhne ich mich an das Leben ohne meinen Freund. Allerdings nur solange die Albträume fern bleiben.
Denn nach etwa drei Wochen beginnen die Albträume, in denen Jim gruselige Dinge macht und versucht mich zu fangen während ich wegrenne. Er taucht immer wieder auf, egal was ich tue und er droht mir Dinge anzutun wenn ich nicht mit ihm komme. Aus solchen Träumen wache ich meist mit tränennassen Gesicht auf und brauche eine ganze Weile um mich wieder zu beruhigen.
Meine Kollegen und Kolleginnen auf der Arbeit bemerken dass es mir nicht gut geht, aber als ich ihnen sage dass ich gerade eine schwere Trennung durchmache, zeigen sie Verständnis. Durch diese Tatsache komme ich einigen aus meiner Abteilung sogar näher und merke, dass es auch noch andere Menschen gibt, die freundlich sind. Ab und zu gehe ich nach der Arbeit mit einigen etwas trinken, oder wir sitzen in der Mittagspause zusammen in einem Café und reden.
Doch so sehr ich versuche Jim zu vergessen, ich vermisse ihn mit jedem Tag mehr und allmählich frage ich mich ob mit mir alles in Ordnung ist. Ich vermisse Jims Wärme, seinen Geruch und seine Liebe. Ich vermisse das Gefühl neben einzuschlafen, mit seinen Armen um mich, morgens neben ihm aufzuwachen und mich auf ihn zu freuen wenn er weg ist. Ich wünsche mir so sehr ihn wiederzusehen, seine Stimme zu hören und seine Lippen auf meinen zu spüren. Und nach zwei Wochen erkenne ich, dass ich Jim noch immer liebe, und das erschreckt mich irgendwie.
Aber er meldet sich nicht, weder per Brief, noch per Anruf oder Nachricht, was ja verständlich ist, nach dem was er abgezogen hat. Fast ist es, als hätte er nie existiert. Auch von Sebastian höre ich nichts, allerdings habe ich seit einiger Zeit das Gefühl beobachtet zu werden.
Mal sind es nur zufällige Blicke auf heimliche Beobachter, manchmal aber auch sehe ich wie mich Menschen offensichtlich anstarren und mir auf kurze Strecken sogar folgen. Einmal glaube ich Henry zu sehen, doch kaum habe ich ihn erkannt, verschwindet er in der Menge und ich eile erschrocken nach Hause.
Meine Nachbarn Jenny und Tom laden mich nochmal zu einem Abendessen ein und erkundigen sich nach dem Verbleib von Jim.
"Wir haben ihn schon länger nicht mehr bei dir gesehen", bemerkt Jenny und ich werde ein wenig traurig.
"Jim und ich haben uns getrennt."
"Oh nein!", macht Jenny erschrocken und will mich trösten, doch ich lächle sie leicht an.
"Es ist besser so."
Und doch will ich zu ihm zurück. Obwohl meine Stimmung meistens nicht besonders gut ist, wird das Wetter allmählich wärmer. Jedenfalls bis eine Reihe von Gewittern eines Abends über die Stadt zieht und ihre nasse Fracht über London abladen.
Es ist nun fast zwei Monate her seit ich Jim zuletzt gesehen habe, und ich befinde mich gerade bei der Arbeit als es in Strömen anfängt zu regnen. Frustriert schaue ich aus dem Fenster und seufze.
"Und ich muss gleich da durch gehen."
"Sie können ja auch noch weiterarbeiten", meint da einer meiner Kollegen, Steve, grinsend und ich schüttele den Kopf. Steve ist ein netter Kerl, aber er neigt dazu nicht ernst bei der Sache zu sein. Das macht den Alltag hier manchmal sehr viel lustiger.
"Bestimmt nicht, ich bin froh wenn ich nach Hause komme."
Und tatsächlich bin ich eine halbe Stunde später auf dem Weg zum Bus.

~~~

Moriarty In Love Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt