Epilog

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Frau Sommer, wie schön Sie wieder hier begrüßen zu dürfen." Ein Lächeln huschte über die Lippen des älteren Professors, der Jules in sein Sprechzimmer führte. Jules nickte schwach und folgte ihm. Er deutete ihr mit einer Handbewegung an sich zu setzen. Sie ließ sich auf dem alten Stuhl nieder, dessen Polsterung bereits ganz durch gesessen war. Ihre Hände wollte sie unter die Oberschenkel schieben, aber sie hielt inne. Stattdessen legte sie ihre Hände in ihren Schoss und sah Professor Reichert an. Ein schwaches Lächeln zog sich über ihre Lippen, während er seine Unterlagen ordnete. „Wie geht es Ihnen?", fragte er und hob den Blick als er das passende Dokument gefunden hatte.

Jules nickte leicht. „Gut. Es geht mir gut", sagte sie und ignorierte das Flattern ihres Herzens. Eigentlich ging es ihr gar nicht gut. Sie war nervös, weil Herr Reichert darüber entscheiden würde, ob er sie bei ihren Abschlussarbeiten unterstützen würde. „Und Ihnen?", schob sie hinterher, woraufhin auch der alte Mann sanft lächelte. „Oh, wissen Sie in der vergangenen Woche ist meine Enkeltochter geboren. Da sollte es einem doch gut gehen, oder?" Bei der Erwähnung seiner Tochter fingen seine Augen an zu Strahlen und Jules lachte leise, ehe sie nickte schwach. „Herzlichen Glückwunsch", kam es von ihr.

„Vielen Dank. Aber nun erzählen Sie, wie es Ihnen ergangen ist. Hat London Ihnen gefallen?"

Jules hielt einen Moment inne um dann langsam zu Nicken. „Ja, London war unglaublich. Ich habe so viel gelernt und die Stadt ist beeindruckend." Ihr Gegenüber nickt nur langsam und lauschte den Schwärmereien der jungen Frau. Hin und wieder hackte er etwas nach und Jules verlor sich in einem neuen Redeschwall. So war es ihr bisher immer gegangen, wenn jemand sie nach London gefragt hat. Aber je mehr sie erzählte, desto bedrückter wurde sie. Unmittelbar mit den Erzählungen waren auch die Erinnerungen verbunden, die ihr Unbehagen bereiteten.

Das schlechte Gewissen, dass sie einfach so verschwunden war, ohne ein Wort, suchte sie heim. Sie konnte nachts nichts schlafen und immer wieder spielte sie mit dem Gedanken sich bei ihren Freunden zu melden. Aber bislang hatte sie nie den Mut aufbringen können. Vielleicht war es auch gut so und sie würde so weitaus schmerzloser aus der Geschichte herausgehen. Sie verbat sich den Gedanken an Liam oder an Andy. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das letzte Semester. Sie wollte es mit Bestnoten abschließen, weshalb sie bereits jetzt um einen Termin bei Professor Reichert gebeten hatte.

Freudig willigte er ein und gemeinsam begannen sie darüber zu sinnieren, womit sie sich in den nächsten Monaten beschäftigen konnte. Sie wollte etwas Ungewöhnliches machen und hatte bereits einige Ideen entwickelt, die sie nun vorlegte. Der Professor versprach, dass er sich die Mappe ansehen würde, die Jules mitgebracht hatte und sich dann mit ihr in Verbindung setzen würde. Er war schon jetzt beeindruckt von dem, was sie ihm erzählt hatte.

Zum Abschluss ihres Gespräches erhob er sich und schüttelte Jules die Hand. „Frau Sommer, es war die richtige Entscheidung, die sie getroffen haben", bemerkte er zum Abschluss und lächelte sie warm an.

„Vielen Dank", sagte Jules leise und war ganz verlegen angesichts dieses Kompliments. Sie verabschiedeten sich voneinander und mit den Worten im Ohr, lief sie zur U-Bahn, die sie ins Stadtzentrum bringen würde. Ein breites Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und sie konnte sich ein fröhliches Jauchzen nicht verkneifen. Zu gut taten die Worte ihres Professors, auch wenn sich ein fader Beigeschmack darunter mischte.

Sie vermisste London. So schrecklich und doch war es die richtige Entscheidung, die sie getroffen hatte. An der Haltestelle stieg sie in die U-Bahn und ließ sich auf einem der freien Plätze nieder. Sie zog ihr Buch aus der Tasche, schlug es auf und verlor sich zwischen den Zeilen.

„Manchmal gehen zwei Menschen aneinander vorbei, sehen sich kurz in die Augen, und alles, was bleibt, ist ein Wunsch. Ein Traum von dem, was hätte geschehen können. Und dann gehen sie mit jedem Schritt weiter voneinander fort und von all ihren Träumen."*

Jules hielt inne. Die Wörter drangen in sie ein, trafen sie ins Herz, welches sich schmerzhaft zusammen zog. Ihre Augen schlossen sich und sie versuchte die Bilder zu verdrängen, die sich in ihr Bewusstsein schoben. Sie wollte nicht an ihn denken und die Zeit in London hätte sie am liebsten vergessen. Aber manche Begegnungen wirken nach und unbewusst werden sie festgehalten als Gefühl, als Erinnerungen oder als Traum. Sie verfolgen einen, suchen einen heim, wenn man nicht damit gerechnet.

So viel hatte sie in London erlebt. Aber nicht die Stadt war es gewesen, die ihr Leben verändert hatte, sondern die Menschen, denen sie dort begegnet war. Unwiderruflich und langsam hatten sie aus dem schüchternen Mädchen, welches sich lieber im Hintergrund hielt eine junge selbstbewusste Frau gemacht, die ihren Weg im Leben endlich gefunden hatte.

*Zitat aus: Arkadien fällt, Kai Meyer

_____♥

26.10.16

Keine großen Worte. 

Changing lifeWhere stories live. Discover now