Auch wenn sie ein kleines Stückchen größer als ich war, besaß sie immer noch eine überaus zierliche Figur und war leider auch nicht die Stärkste. Dafür hatte sie es aber umso mehr im Köpfchen.

Nachdem sie mich wieder losgelassen hatte, sah sie sich kurz um, bevor sie auch schon ihre Augen verdrehte.

"Erinnerst du dich noch an Reece, meinem kleinen Bruder? Na ja, wir sind nächste Woche auf eine Beerdigung eingeladen und brauchen noch einen passenden Anzug für ihn. Aber wie es scheint, hat er sich einfach in Luft aufgelöst."

Nur kurz blickte sie sich wieder nach ihrem Bruder um, gab es jedoch schließlich auf und wandte sich wieder mir zu.

"Der kleine Reece, der immer so verrückt nach den Cookies war, die wir immer wieder zusammen bei dir gemacht haben? Ich weiß gar nicht mehr, wie lange das schon her ist. Wie alt ist er jetzt? 19? 20?"

"22. Fast schon ein alter Sack also. Er studiert sogar noch, auch wenn es sein letztes Jahr ist", erzählte sie mir und ich konnte klar den Stolz in ihrer Stimme raus hören.

Es fühlte sich irgendwie gut an, mit Grace zu reden. In meinem Leben lief gerade alles drunter und drüber. Da war ich froh, gerade so eine konstante Person wie meine alte Kindheitsfreundin bei mir zu haben. Das letzte Mal hatten wir uns vor ein paar Jahren gesehen, telefoniert wurde nur sehr selten. Und Reece hatte ich überhaupt nicht mehr seit der Schulzeit gesehen.

Er war drei Jahre jünger als Grace, auch wenn sie mir fast ein ganzes Jahr voraus war. Ich hätte auch ihn gerne wieder gesehen. Reece war schon als kleines Kind ein wilder Frechdachs - wie ich ihn immer liebevoll genannt habe - gewesen.

"Das klingt toll. Jura, oder? Er wollte doch schon immer Anwalt werden", sagte ich und quittierte ihr Kopfnicken mit einem breiten Lächeln. "Und was ist mit dir? Hat es mit deiner Karriere als Polizistin funktioniert? "

Grace seufzte nur tief aus und verneinte trübsinnig.

"Ach was. Ich hätte sogar eine Stelle kriegen können, aber...das wollte ich nicht, weißt du? Ich wollte nicht zur Polizei gehen, wenn mein Vater gleichzeitig auch Chief of Department ist. Er hat es sich zwar gewünscht, aber es kam mir irgendwie falsch vor. Meine Chancen in wichtige Positionen zu kommen, war viel höher als bei anderen - aber nicht wegen meinen Verdiensten, sondern weil mein Vater so viel geleistet hat. Ich will das nicht, also habe ich mich doch umentschieden und bin jetzt eindach Grundschullehrerin geworden. Es ist zwar nicht wirklich leicht und es ist noch keine richtige, feste Stelle, aber es ist ein Anfang. "

Kurz sah ich sie einfach nur an, wusste nicht was ich dazu sagen sollte. Es ist schon immer ihr Traum gewesen, zur Polizei zu gehen. Wie es auch meiner war, als Journalistin zu arbeiten. Doch schlussendlich haben wir beide wohl unsere Träume für unsere Eltern weggeworfen. Sie ist Lehrerin geworden - weil sie ihrem Vater nicht zu Last fallen wollte. Und ich arbeite bei meinen Eltern, verbringe jedoch die meiste Zeit bei mir Zuhause und arbeite von da - weil ich ihnen nicht zur Last fallen wollte.

Manchmal konnte das Leben wirklich unfair spielen.

"Und du? Du arbeitest jetzt doch sicher bei deinen Eltern!"

Ich bemühte mich zu einem kleinen Lächeln und nickte nur.

Dann blieb es still zwischen uns beiden.

So eine Wirkung besaß Grace auf viele Menschen. Sie konnte einen beruhigen, aber ebenso mit ihren eigenen, aufgebrachten Gefühlen anstecken. Wenn man bei ihr war, fing man wie von selbst an, sich mehr Gedanken als sonst zu machen. Sie brachte einem zum Nachdenken, sei es eine Kleinigkeit oder das ganze Leben und ich glaube, sie wusste das noch nicht mal.

Dark SoulWhere stories live. Discover now