Kapitel 22

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Sein Wecker klingelte und Sylvester wachte auf seiner neuen Schlafmöglichkeit auf. Mit den Gedanken noch woanders ertastete er das kleine, piepende Gerät und brachte es zum Stillstand. Ein leichtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das mittlerweile nicht mehr von blauen Flecken übersäht war. Auch der ständige Muskelkater, der ihn in die Realität begleitete, wurde von Tag zu Tag besser.

Das Bett, in dem er nun seit knapp zwei Wochen schlief, entsprach den Grundvoraussetzungen, um es als solches zu bezeichnen, und für einen kurzen Moment, dachte er, er läge in seiner Wohnung. Dann schlug er die Augen auf und mit einem Mal kam ihm alles wieder in den Sinn.

Die Anwerbung, die Komplimente, der Einführungstag, Riley Blake. Er war ein Neuling bei der Assassin GmbH. Noch immer hallten die Worte seiner Trainerin in seinen Ohren. Du hast zwar jetzt ein eigenes Zimmer und kannst in einem bequemen Bett schlafen, aber das heißt noch lange nicht, dass du mit der Ausbildung fertig bist. Es wird kein Spaziergang, kapiert? Blindlinks wanderte seine Hand auf den Beistelltisch und griff ins Leere.

Wo ist mein Armband? Gestern hatte ich es doch noch. Oder? Verwundert sah er auf sein rechtes Handgelenk. Kein Armband. Auch im Bett und auf der Kommode gegenüber fand er nichts. Er suchte den ganzen Raum ab, aber viele Versteckmöglichkeiten gab es nicht. Betrübt über seinen Verlust trottete er zu dem einzigen Gegenstand im Raum, der von gewissem Wert war: den Spiegel.

Er war aus dem viktorianischen Zeitalter und passte keineswegs in das sonst so spärliche Zimmer. Mit einem vergoldeten Rahmen und schnörkeligen Verzierungen, die sich bis zum Boden erstreckten, wurde selbst die Reflektion des schönsten Menschen darin, in den Schatten gestellt. Und ich bin alles andere als schön. Mit dem zerzausten, blonden Haar und den Ringen unter den Augen wirkte Sylvester doppelt so alt. Dabei war der Mann erst neunzehn. Obwohl er heute gut genächtigt hatte, musste er trotzdem noch eine Menge Schlaf nachholen. Er wünschte sich seit dem Beginn der Ausbildung nur einen freien Tag, um sich zu entspannen, aber es gab keine Ausnahmen.

Ich wurde gewarnt. Um sich den elenden Anblick zu ersparen, trat er zur Seite und machte sein Bett. Dann zog er sein Trainingsgewand und blickte auf seinen Wecker. Ein bisschen Zeit habe ich noch. Er entschied, sich etwas hinzulegen, bevor es anstrengend wurde. Jede Sekunde, in der er sich ausruhen konnte, betrachtete er als Geschenk, denn ehe er sich versah, stürmte Riley in sein Zimmer.

„Bereit fürs Training?" Er richtete sich auf.

„Hab ich denn eine Wahl?", fragte er misstrauisch.

„Natürlich nicht", antwortete die Frau. Er seufzte und stand auf.

„Na dann."

***

„Heute habe ich etwas ganz besonderes für dich." Verblüfft schaute er sie an. Das kann nichts Gutes bedeuten. Er wartete ab und versuchte so gleichgültig wie möglich zu wirken. So wie er derzeit aussah, war das auch nicht sonderlich schwer.

„Heute wirst du gegen mich kämpfen." Ihm rutschte das Herz in die Hose. Er tat zwar immer so, als hätte er keine Angst vor ihr, doch jetzt konnte er seine Furcht nicht verbergen.

Und sie ist sogar nüchtern. Da werde ich sie ja niemals zu Fall bringen. Sylvester schluckte. Riley lachte.

„Das war ein Scherz. Du hättest dich sehen müssen, göttlich." Er wurde rot. Verdammt, ich bin auf sie reingefallen. Er war verärgert.

„Aber mal ernsthaft jetzt, du kämpfst heute. Und dein Gegner ist Miss Heulsuse."

Akira! Er hatte seit sie zugeteilt wurden nicht mehr mit ihr gesprochen oder sie gar gesehen. Ich kann doch nicht gegen sie kämpfen! Obwohl er manches Mal großkotzig und prahlerisch war, wusste er sich doch, wie ein Gentleman zu benehmen.

„Ich werde kein Mädchen schlagen. Und nenn sie nicht so. Sie heißt Akira", protestierte er. Er mochte sie und wollte sie nicht verletzen. Sie denkt sicher genauso.

„Du bist so naiv, wenn du meinst, sie steht auf dich. Sie wurde ausgebildet, um andere zu töten. Sie hat kein gutes Herz oder was du sonst so in ihr siehst. Und wenn du nicht aufpasst, wird sie dich schneller umgelegt haben, als du ‚Ich liebe dich' sagen kannst." Riley war im Unrecht. Er konnte sich das einfach nicht vorstellen. Sylvesters Wut auf seine Mentorin wurde größer.

„Du hast doch keine Ahnung", sagte er trotzig.

„Ich habe mehr Ahnung als die Kapazität deines mickrigen Gehirns jemals zulassen wird. Und jetzt übe lieber noch ein bisschen mit dem Dummy. Wir wollen doch nicht, dass du schon nach der ersten Runde K.O. gehst."

„Das reicht. Ich habe mir seit zwei Wochen deine Beleidigungen gefallen lassen, aber jetzt habe ich langsam die Schnauze voll!", schnaubte er.

„Uh, jetzt hab ich aber Angst. Pass du lieber auf, was du sagst, Kürbiskopf", mahnte sie ihn. Dann tat er das, was er seit ihrer ersten Begegnung machen wollte. Er schlug Riley. Mit einem rechten Haken entledigte er sich all seiner Wut. Nach dem Hieb stellte er sich sofort in die Defensive, um vor etwaigen Angriffen geschützt zu sein. Er wartete auf ihre Attacke, doch nichts passierte. Sylvester war verunsichert.

„Was ist? Dachtest du ich schlage zurück?", wollte Riley wissen. Ihr Gegner hielt die Hände, zu Fäusten geballt, immer noch vor dem Gesicht.

„Wenn ich du wäre", begann sie, „dann würde ich mich mal gründlich selbst hinterfragen. Sehr gentlemanlike war das nicht gerade." Verflucht, sie hat mir eine Falle gestellt.

„Du wusstest, dass ich dich schlagen würde, nicht wahr?" Er lockerte seine Haltung. „Irgendwann fallen alle Fassaden, und der Mensch zeigt sich als das, was er wirklich ist. Ein Tier." Er wiederholte den Satz in seinem Inneren.

„Und jetzt übe. Ich muss noch einen Auftrag erledigen." Mit diesen Worten verabschiedete sie sich. Er hatte ihr sein wahres Ich offenbart. Er war erschrocken, doch nicht von der Aktion selbst, sondern vor den darauffolgenden Auswirkungen. Er mochte es.

AuftragskillerWhere stories live. Discover now