Kapitel 20

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Es roch nach Desinfektionsmittel, doch für Scarlett war das ein ganz normaler Tag. Sie testete Medikamente auf ihre Wirksamkeit und prüfte, ob die Dosis stimmte. Ab und zu musste sie etwaige Kolben oder Gläser sauber machen, und Materialien wie Spritzen und Pipetten austauschen und vom Lager neue holen. Jeden Morgen zog sie sich Plastikschuhüberzüge und eine Schürze an, wusch sich gründlich die Hände und streifte sich Latexhandschuhe über. Dann betrat sie ihr Reich. Es war ein vollausgestattetes Labor mit Mikroskopen, Computern, und allerlei hochtechnologischen Geräten.

Die einzigen anderen Menschen, die Zugang zu diesem Raum hatten, waren ihre Arbeitskollegin Loreen und der IT-Spezialist Steve, der sich um die Funktionstüchtigkeit der elektronischen Gegenstände kümmerte. Wie auch an diesem Tag war Scarlett vor Loreen am Arbeitsplatz und ging in Gedanken ihre Checkliste durch. Sie sah nach, ob über das Wochenende etwas kaputt gegangen war, und als sie sich sicher sein konnte, dass alles an Ort und Stelle stand, fuhr sie ihren PC hoch.

Wenig später zischte die Glastür und Loreen spazierte mit zwei Kaffeebechern herein. „Morgen, Scarlett. Hier ist dein Latte", begrüßte sie die Frau freundlich und reichte ihr einen Pappbehälter. Dankbar nahm sie ihn an, und machte einen großen Schluck von der braunen Flüssigkeit.

Wenn es um das frühe Aufstehen ging, dann war Scarlett nur schwer aus dem Bett zu kriegen. Oft fehlten ihr Elan und Motivation, um sich aufzurappeln, doch mit der Hilfe ihrer drei Wecker und ihres Verlobten kam sie trotzdem immer pünktlich, wenn auch verschlafen und manchmal schlecht gelaunt. Durch den Kaffee würde sie bald fit sein.

Auf Loreen ist immer Verlass. Ein Glück, dass ich sie als Kollegin und Freundin habe. Die warme Brühe floss in ihren Körper und erwärmte sie von innen. Das tut gut.

„Danke, Loreen", sagte sie, als sie den Becher zur Seite stellte, „Das hatte ich echt nötig." Scarlett war froh sie wieder zu sehen. Nach drei Wochen Urlaub geht es ihr bestimmt besser als mir.

„Ich hab das von Derek gehört. Herzliches Beileid." Loreen setzte sich neben sie und schaltete ebenfalls ihren Computer ein.

„Das Wochenende war wieder mal hart für ihn. Da hat er keine Beschäftigung, und ist nur am Grübeln." Während sie sprach, nahm sie ihre Tasche und wühlte ein wenig. Dann fand die Frau, was sie gesucht hatte und hielt es triumphierend hoch.

„Da ist sie ja. Sie war ganz unten versteckt. Ich dachte schon, ich hätte sie zu Hause vergessen", meinte sie und klappte das Etui auf. Darin befand sich eine große Brille mit runden Gläsern und beiger Umrandung.

„Du solltest dir echt mal ne neue kaufen. Du siehst aus, als wärst du eine pubertierende Vierzehnjährige in den Neunzigern", entgegnete ihr Loreen. Scarlett setzte die Brille auf und sah sie leicht verärgert an.

„Sag nichts gegen die Neunziger. Die waren toll. Du hast sie ja nicht mal richtig wahrgenommen, weil du zu der Zeit noch Muttermilch getrunken und in Windeln herumgekrabbelt bist."

„Genug auf jeden Fall, um zu wissen, dass dieses Ding grässlich aussieht." Scarlett stupste sie leicht in die Seite.

„Die ist total schick. Immerhin habe ich mit ihr meinen ersten Freund aufgerissen und meinen Verlobten damals um den Finger gewickelt."

„Ich kenne die Geschichte, Scarlett. Du hast ihn mit Kaffee vollgesaut und fast angefangen zu heulen. Was hätte er denn anders tun sollen, als mit dir auszugehen?"

„Das ist doch Vergangenheit. Aber wie es sich herausstellte, war es die beste Entscheidung seines Lebens, sich einladen zu lassen", antwortete sie und zeigte ihrer Freundin den wunderschönen Ring auf ihrer linken Hand.

„Ja, das weiß ich. Aber zu deiner Hochzeit schenke ich dir eine bessere Brille. Die Braut braucht doch schließlich auch etwas Neues."

„Schenk mir doch lieber eine Vase oder ein...", begann die Frau aufzuzählen, aber sie wurde unterbrochen. Das Festnetztelefon klingelte in einer ohrenbetäubenden Frequenz. Beide sahen sich verwundert an.

Normalerweise ruft hier niemand an, jetzt da wo wir alle diese Pager haben. Ich wusste nicht einmal, dass es noch funktioniert. Anscheinend sorgt sich Steve auch um dieses Gerät.

„Ich geh ran. Merk dir, wo ich stehengeblieben bin", sagte Scarlett. Loreen nickte und beobachtete sie, wie sie den Hörer abnahm.

„Hallo?", sprach sie.

„Ja, die bin ich. Scarlett Anderson." Je länger die Person an der anderen Leitung mit ihr redete, desto trauriger wurde ihr Miene.

„Was?", fragte sie entsetzt, „Das... das kann doch nicht wahr sein. Aber.. wie soll das gehen?" Ihr stiegen Tränen in die Augen. Einige Sekunden verstrichen, in denen die Frau wie gebannt der anderen Stimme lauschte.

„Danke für die Auskunft. Auf Wiederhören", schniefte sie. Dann legte sie auf. Ihre Kollegin kam zu ihr hinüber und nahm sie in den Arm.

„Was ist denn passiert, Schätzchen?" Sie begann zu schluchzen und zu weinen. Loreen sah ihr jetzt in ihre rötlich gewordenen Augen. An den Wangen kullerten Tränen.

„Das war ein Polizist aus Boston. Luke ist gestorben."

AuftragskillerWhere stories live. Discover now