Fakt dreiundvierzig

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Fakt dreiundvierzig: Trifft keine Rettung ein, muss man es selbst in die Hand nehmen.

„Wiedersehen ist zwar schön, aber könnten wir das auf später verschieben?", bemerkte der Professor und zog an meinem Arm.
„Jetzt zeigt uns bitte das Boot."
„Kommt", flüsterte Jared, sah zu den Frauen hinüber und deutete dann auf eine Hütte, welche auf der anderen Seite lag.
Ich stockte. „Heißt das, wir müssen an denen vorbei?", fragte ich und griff automatisch nach Ira's Hand.
„Nein." Der Professor schüttelte den Kopf. „Wir werden außenrum gehen."

„Woher kennst du diese Leute eigentlich, Liv?", fragte Ira und zog mich sanft in seine Arme. Offenbar war er misstrauisch.
„Wir können ihnen vertrauen", schärfte ich ihm ein. Gott, wir hatten andere Probleme! In der Zwischenzeit hatten wir uns hinter einer Hütte versteckt, sodass es den Frauen unmöglich war, uns zu sehen. Doch die Frage blieb, was wäre, wenn die anderen Eingeborenen zurückkämen.
„Sind das alle Frauen?", fragte ich den Professor, um einschätzen zu können, wie viele Personen es noch gab. Dieser schüttelte den Kopf.
„Einige von ihnen sind mit ihren Männern unterwegs."
„Wir holen jetzt das scheiß Boot und laufen dann zum Strand. Geht es, Liv?" Er deutete auf meinen Fuß und ich nickte. Jared wirkte überzeugt, dass es klappen würde. Es musste jetzt auch funktionieren. Wenn nicht, steckten wir ziemlich in der Klemme. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie uns fänden.
„Ganz ohne Vorräte?", fragte Amelie schockiert. Und sie hatte recht. Wie sollten wir ohne Wasser überleben?
„Wenn wir es noch schaffen, besorgen wir was, aber wir müssen erst einmal das Boot holen sonst ist sowieso alles hinfällig."

Ich nickte, doch wirklich überzeugt, wie Jared es war, konnte ich nicht sein. Auf dem offenen Ozean. Fünf Personen. Kein Wasser. Das konnte doch gar nicht gutgehen.
Beim bloßen Gedanken daran fühlte meine Kehle sich rau und trocken an und mein Magen protestierte. Mir war jetzt schon klar, dass es eine schwere Zeit sein würde. Auch dort gab es Gefahren. Und wohin sollten wir? Kannte jemand die Richtung? Vielleicht würden wir sterben, ehe wir auf Land stießen. Dennoch war es unsere einzige Chance, je wieder hier wegzukommen. Amelie und der Professor waren schon Jahre hier und das ließ die Hoffnung einer zufälligen Rettung sterben.

Der Professor ging voraus und zog Ira am Arm mit sich. Er war der Einzige von uns, der das Boot wirklich gesehen hatte. Bis zur nächsten Hütte und somit unser erstes, sicheres Versteck, waren es schätzungsweise zehn Meter. Ich bedeutete Jared und Amelie zu warten, bis die anderen beiden drüben waren. Es war zu riskant, mit fünf Personen auf einmal dahin zu spazieren. Mit weniger war es deutlich unauffälliger.

Den Blick hielt ich immerzu auf die Frauen mit ihren Kindern gerichtet. Glücklicherweise schienen sie sich sicher zu fühlen und befürchteten nicht, dass hier andere Menschen waren. Kam vermutlich auch selten vor.
Der Dschungel gab seine gewohnten Geräusche von sich und mein Herz schlug aufgeregt, wenn ich daran dachte, ihn bald verlassen zu können. Würden wir es wirklich schaffen? Doch auch Angst durchzog meinen Körper. Es war nicht vorbei. Noch lange nicht. Selbst wenn wir die Insel hinter uns gelassen hatten.

Es dauerte einige Minuten, bis wir die Hütte erreicht hatten, die Ira gemeint hatte. Der Schmerz in meinem Fuß war spürbar, aber ich hielt es schon aus. Jared stützte mich, da Ira vom Professor beansprucht wurde und ich war ihm dankbar dafür. So lastete zumindest nicht mein ganzes Gewicht auf dem Fuß.
Mir fiel auf, dass diese Hütte größer war als die anderen Unterkünfte. Wohnte hier eine Mehrköpfige Familie oder diente dieser Raum als eine Art Abstellkammer?

Die Hütte wirkte ziemlich robust und hatte einen offenen Eingang, der es – wie ich bemerkte – Ira möglich gemacht hatte, das kleine Boot zu sehen.
Bei seinem Anblick kamen mir die Tränen. Ein Boot! Ein heiles, kleines Boot. Und was am besten war: Es war real. Ich träumte nicht.

Seine weiß-blaue Farbe war schon abgeblättert und hier und da wurde es von Rost beherrscht. Es spielte aber keine Rolle. Solange es funktionstüchtig war, war es perfekt.
„Das gibt es nicht", hauchte der Professor und begab sich in die Hütte. Beinahe ehrfürchtig strich er über den Lack, welcher unter seinen Fingern weiter abfiel. „Das ist mein Boot. Das, womit ich auf dieser Insel gelandet bin. Sie hatten es. Die ganze Zeit über hielten sie es versteckt."

Ungläubig starrte ich ihn an und plötzlich empfand ich Mitleid. Jahrelang, vielleicht Jahrzehnte, war er in seiner Höhle im Dschungel gefangen und das, obwohl sein Boot nie weg gewesen war.
„Und wie bekommen wir es hier raus?", fragte ich eilig. Für sentimentale Augenblicke gab es später wohl noch ausreichend Zeit.
„Wir tragen es, Mädchen", antwortete Jared und schüttelte den Kopf über mich.
Wir hatten Glück, dass das Loch, welches als Eingang fungierte, auf der Seite lag, die die Frauen nicht sehen konnten. Ansonsten hätten wir wohl sehr schlechte Karten gehabt.
Jared und Ira stellten sich auf gegenüberliegende Seiten auf, damit das Gewicht besser verteilt wurde. Da ich schätzte, dass Jared mehr Kraft hatte, gesellte ich mich zu ihm, in der Hoffnung, so meinen Fuß nicht allzu stark belasten zu müssen. Als ich einen Blick in das Boot warf, entdeckte ich zwei Ruder.

„Auf drei", meinte Jared und nickte uns zu. „Eins." Meine Hände zitterten und ich hatte Angst vor dem Gewicht. „Zwei." Konnten wir es überhaupt halten? War es nicht zu schwer? „Drei."
Mit einem Ruck hoben wir es in die Luft. Es war schwer, aber machbar. Vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen, gingen wir hinaus ins Freie. Schmerzen durchzogen mein gesamtes Bein und ich betete, dass es zum Strand nicht allzu weit war. Immer wieder rutschte ich mit meinen schwitzigen Händen ab und meine Blick glitten nach hinten, wo ich aber nichts erkennen konnte. Wir erzeugten kaum Geräusche und doch war es nicht völlig still um uns. Ich hoffte nur, der Dschungel würde unseren Sound verschlucken.

Es dauerte eine Weile, bis wir die Hütten nicht mehr sehen konnten. Dieses Boot verlangsamte unser Tempo um ein vielfaches.
Trotzdem kam ich nicht umher, mich immer wieder umzudrehen, um sicherzustellen, dass niemand uns gefolgt war. Erst fühlte ich mich deshalb ein wenig paranoid, bis ich merkte, dass es den anderen ganz genauso erging.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrich. Spürte nur den Schweiß auf meiner Haut, der immer mehr wurde, fühlte meinen Puls rasen, sah, wie sich die Welt um uns herum langsam verdunkelte. Fest stand, dass es schon eine Weile her war, seitdem wir aufgebrochen waren.
„Wie weit ist es noch zum Strand?", fragte ich und hoffte, der Professor wüsste die Antwort. Tat er auch.
„Nicht mehr weit", antwortete er. Seine Stimme bebte. „Aber nach meinen Schätzungen werden sie bald zurück in ihr Quartier gehen und merken, dass die zwei Jungs weg sind. Und das Boot."
Es war wie eine unausgesprochene Abmachung. Wir alle liefen schneller, ignorierten das Brennen unserer Muskeln. Ignorierten, dass wir das Boot kaum noch halten konnten. Einzig und allein Jared wirkte so, als hätte er noch genügend Kraft für all das.

Mein einziges Ziel war es, es zu schaffen. Den Strand zu erreichen, bevor die Eingeborenen es taten. Was würden sie mit uns anstellen, wenn sie uns fänden? Uns töten? Qualvoll? Uns vielleicht essen? Oder uns ebenfalls einsperren? In eine Grube. Dort würden wir gefangen sein und hätten keine Chance mehr, in die Zivilisation zurückzukehren.
Doch der Professor schien noch ein weiteres Ziel zu haben.

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