Fakt einundzwanzig

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Fakt einundzwanzig: Manchmal sollte man auch auf Vollidioten hören.

„Eines kann ich euch sagen", meinte Jared irgendwann, als wir schon eine Weile in eine Richtung gelaufen waren, die ich noch nie eingeschlagen hatte. „Ich rate euch, bei mir zu bleiben und nicht auf Erkundungstour zu gehen. Da sind Dinge, die ihr lieber nicht sehen wollt, vertraut mir." Er warf mir einen verschwörerischen Blick zu, den ich empört erwiderte.
„Was für Dinge, Jar?", fragte Ira und rückte unauffällig näher an mich heran. Hatte er etwa Angst?
Die hatte ich zumindest nicht ... Gut, ein wenig vielleicht.

Als Antwort gab Jared nur ein leises Lachen von sich, was womöglich aussagekräftiger war, als ein paar Worte von ihm.
Jared führte uns immer tiefer in den Dschungel hinein, wo nur noch wenige Lichtstrahlen das Innere erreichten und auf den grünen Blättern tanzten.
„Wo zum Teufel führst du uns hin?", fragte ich nach einer Weile. Die Füße taten mir weh, ich hatte Durst und mein Magen knurrte so laut, dass es mir schon peinlich war.
„Dahin, wo ihr wolltet", gab er als Antwort, dann drehte er sich zu mir um. „Keine Panik, Mädchen. Wir haben's bald geschafft."

Nach ein paar Minuten blieb Jared plötzlich stehen. „So, wir sind fast da. Ich erinnere euch, haltet euch nah bei mir." Als er das sagte, drehte er sich nicht um, sondern starrte weiterhin geradeaus.
Ich dachte über seine Worte nach. Also entweder es gab dort etwas, was uns verstören könnte oder er wollte uns bloß Angst machen.
Letzteres würde meiner Meinung nach besser zu ihm passen.
Ira warf mir einen unsicheren Blick zu.
„Meinst du, die Insel könnte einen in so kurzer Zeit irre werden lassen?", flüsterte ich.
Ira schüttelte dein Kopf und verzog das Gesicht. „Das ist Schwachsinn, Liv."

„Wir sind da", sagte Jared auf einmal und brachte mich zum abrupten Stillstand. Mit der Hand drückte er ein paar Äste beiseite und ließ den Blick auf eine kleine, heruntergekommene Holzhütte frei.
Für einen Moment verschlug dieser Anblick mir schlichtweg die Sprache.
„Dein Ernst, Jared? Wirklich?", keifte ich und ging auf die Hütte zu. Jared's Arm hielt mich davon ab.
„Tu es besser nicht", murmelte er.
„Wieso hast du uns nichts davon erzählt?" Jetzt schrie ich und irgendwo im Dschungel waren Geräusche zu hören. Ich hielt inne, doch als nichts weiter kam, redete ich weiter. „Du wusstest es die ganze Zeit?"

„Das war wirklich nicht nett, Alter", mischte Ira sich ein und sah irgendwie enttäuscht aus.

„Kommt jetzt mit", erwiderte Jared nur und führte uns näher an die Hütte heran. „Jetzt wisst ihr, woher ich das Zeug habe. Und hier gibt's noch ein wenig mehr. Ihr könnt beim Tragen helfen."
„Wie hast du die Hütte gefunden?", wollte ich plötzlich wissen.
„Ich war weg, schon vergessen? Und jetzt wartet hier, während ich den Kram hole."
Ich hielt ihn zurück. „Wir kommen mit", sagte ich und warf Ira einen raschen Blick zu. Dieser nickte mir bestätigend zu.
„Mädchen", seufzte Jared und sah mir fest in die Augen. „Selbst ich will das nicht unbedingt noch einmal sehen, also halt dich daraus."
Ich grinste. „Zwingst du mich dazu?"
„Wenn es sein muss", antwortete er. Die schwüle Luft war drückend, ich hatte Durst und keine Lust zu diskutieren. Aber ich war kein Kind mehr. Nicht jetzt. Nicht auf dieser Insel.
Während wir dennoch weiter darüber stritten, ob ich rein durfte oder nicht, kam auf einmal ein markerschütternder Schrei aus dem Inneren der Hütte.

„Ira", rief ich panisch, weil ich sofort erkannt hatte, dass dieser nur von ihm stammen konnte. Er musste in die Hütte gelaufen sein, als ich mit Jared beschäftigt gewesen war ...
Seine blasse Gestalt tauchte im Türrahmen auf. „Nein Liv", hauchte er und rieb sich über die Nase. Doch mir war es jetzt egal. Ich drängelte ihn beiseite und betrat die Hütte. Das, was ich sah, ließ mich die Hände auf meinen Mund pressen, um einen Schrei zu unterdrücken. Vor mir lag ein Mensch. Ein toter Mensch, der fast gänzlich verwest war. Und er roch entsetzlich.
In der Hütte war es relativ dunkel und das ersparte mir vermutlich nähere Details. Ich gab mir gar nicht erst die Mühe, mich umzusehen, ich wollte einfach nur hier raus.
Als ich wieder ins Freie stolperte, sog ich gierig die frische Luft ein.
„Du hattest recht", sagte ich an Jared gewandt. „Aber nur dieses eine Mal."
Dann erst begriff ich.

„Oh mein Gott." Mein Herz schlug schneller und mir wurde schwindelig, was dieses mal nicht an meinen Schmerzen oder an Wassermangel lag. „Wer war dieser Mensch? Warum ist er auf dieser Insel und warum liegt er hier einfach so?", schrie ich und war der Hysterie nahe.
„Liv", murmelte Ira und kam auf mich zu, um mich in seine Arme zu schließen, aber ich stieß ihn von mir weg.
„Es wird dir nicht passen, aber um die Hütte herum und auch noch etwas weiter weg liegen vier weitere Leichen."
„Was?", kreischte ich und ging auf Jared zu, als ob er es wäre, der das alles zu verantworten hätte. Gut, prinzipiell hatte er das auch. Denn immerhin war er  es gewesen, der unerlaubt geflogen war. Zum ersten Mal auf dieser Insel, gab ich ihm die Schuld an allem.
Mit all der Kraft, welche ich irgendwo noch besaß, schlug ich ihm gegen die Brust.
„Du bist Schuld, Jared." Doch bevor ich noch weiter auf ihn einschlagen konnte, hielt er geschickt meine Hände fest.
„Liv, ich weiß nicht, woher diese Menschen kamen oder wer sie waren. Und ich weiß ganz genau, was das bedeuten könnte. Diese Menschen sind tot und liegen hier auf dieser Insel. Mir ist klar, dass es vielleicht Gestrandete gewesen sein könnten. Genau wie wir. Und ich weiß, dass das bedeuten würde, dass sie nie gefunden wurden und ich weiß auch, dass unsere Chancen verdammt nochmal nicht gut stehen! Ich weiß es!"
Tränen rannen mir die erglühten Wangen hinunter und ließen mich heftig schluchzten.

„Wir werden diese Insel nie wieder verlassen können."


Forgotten IslandWhere stories live. Discover now