Fakt zweiunddreißig

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Fakt zweiunddreißig: Die Welt ist voller Menschen.

„War das ...?"
Ich nickte stumm. Ein Wunder das diese Bewegung überhaupt noch funktionierte.
Für eine Sekunde sah ich zu Ira rüber, realisierte, dass er genauso schockiert und verwirrt war wie ich, dann rannte ich Hals über Kopf los. Ich wusste, dass es eindeutig eine Frau war, welche geschrien hatte. Daran hatte ich keinen Moment gezweifelt.

Es war aus dem Dschungel gekommen und hatte sich weit entfernt angehört, die Richtung konnte ich jetzt schon nicht mehr deuten, dennoch durchbrach ich das Gewirr aus Pflanzen und wurde vom dichten Wald umhüllt. Ira lief hörbar hinter mir her.
„Wo lang?", rief ich und machte den Fehler, mich umzudrehen. Mit dem Blick auf Ira gerichtet, hatte ich die Wurzel, die aus der Erde sprießte, nicht sehen können und fiel schmerzhaft auf den Boden.

„Ah", schrie ich und wandte mich zwischen den umherliegenden Blättern, während ich mein pochendes Fußgelenk hielt und eine warme Flüssigkeit an den Fingern spürte, als ich mein Knie dabei streifte. Kurzzeitig wurde mir schwarz vor Augen, was immer dann passierte, wenn ich Schmerzen hatte, doch das legte sich relativ schnell wieder.
„Verdammt", rief Ira leise aus und beugte sich über meinen Körper. Vorsichtig löste er meine Hände und sah sich meinen Knöchel an. „Warum musst du auch ausgerechnet jetzt fallen?", zischte er, doch ich wusste, dass er nicht böse war.

Ich wischte mir mit meinen verschmutzten, ebenfalls aufgeschlürften Händen ein paar Tränen von meinen Wangen und fühlte mich plötzlich wie ein kleines, ungeschicktes Kind, wie so oft in Ira's Nähe. Abwechselnd starrte ich auf mein aufgeschürftes Knie und auf mein Fußgelenk und suchte dann nach weiteren Verletzungen. Bis auf meine Hände und Ellenbogen tat mir jedoch nichts mehr sonderlich weh, was mich an sich nicht erleichtern konnte, denn mein Fuß reichte ja schon.

„Das Knie ist nicht der Rede wert", meinte Ira, presste dann aber die Lippen zusammen als er auf meinen Fuß sah. Er hob ihn an und drückte gegen die Fußsohle, was zwar weh tat, jedoch auszuhalten war. „Ich schätze, gebrochen wird er nicht sein. Vielleicht verstaucht. Oder möglicherweise ist auch irgendetwas mit den Bändern. Kannst du aufstehen?" Ich nickte zwar, war mir aber dennoch nicht sicher. Dann, als ob ich sie verdrängt hätte, fiel mir die Frau wieder ein.

„Geh. Los, Ira", forderte ich ungeduldig und wusste gleichzeitig, dass es eine ganz dumme Idee war. Man sollte sich nicht trennen. Nie. Diese Erfahrung hatte ich bereits machen müssen. Andererseits hatten wir nun keine Wahl. Nicht, wenn wir wissen wollten, woher der Schrei kam.
„Ich komm alleine zurecht, Ira. Versuch sie zu finden und komm dann zum Strand zurück."
Nach meinen Worten wirkte er alles andere als begeistert, dachte aber offenbar darüber nach.
„Bist du sicher?", murmelte er. Je mehr Zeit verstrich, desto unwahrscheinlich war es, die Ursache zu finden, also nickte ich einfach bloß heftig und deutete in eine Richtung, in der ich die Quelle vermutete.
„Das ist nicht klug, Liv", sagte er noch, dann war er verschwunden.

Sobald ich ihn weder hören, noch sehen konnte, bereitete sich ein unangenehmes, beklemmendes Gefühl in mir aus, welches mich nicht loslassen wollte. Wie ein Ertrinkender schnappte ich nach Luft und glaubte, keine mehr bekommen zu können.
An mir nagten die Zweifel und ich wusste nun, dass es ein Fehler gewesen war. Doch Ira konnte nicht weit sein. Ich würde ihn einholen können, dass wusste ich genau!
Schneller als ich konnte versuchte ich aufzustehen, aber als ich meinen Fuß belastete, durchzog ein stechender Schmerz meinen Körper, sodass mir gleich noch einmal schwarz vor Augen wurde. So konnte ich ihm nicht hinterherlaufen. Unmöglich.
„Ira", rief ich, bekam aber nur von ein paar Tieren, die durch die Büsche raschelten, Antwort.
Das hatte ich ja mal mächtig vermasselt.

Mit quälenden Schmerzen schleppte ich mich die letzten paar Meter zum Strand und ließ mich dann verschwitzt in den Sand fallen. Hier sah alles so friedlich aus, als wäre nichts geschehen.
Nicht nur, dass ich mich über meine tollpatschige Art ärgerte, nein, ich war den Tränen nahe. Wäre ich nicht gewesen, hätten wir die Frau vermutlich gefunden und Ira wäre nicht irgendwo da draußen. Allein im Dschungel. Er.
Jared und ich hatten es alleine dort drin geschafft. Jedenfalls für eine Weile. Doch Ira? Ich war mir nicht sicher.
Ich gab mir Mühe flach zu atmen und meinen Fuß so wenig wie möglich zu bewegen. Nach dem Laufen war der Knöchel dick angeschwollen und immer wenn ich ihn drehte, hatte ich das Gefühl, er könne sich nicht mehr bewegen.

Hinzu kam die Angst. Nicht nur, dass ich mich um Ira sorgte, nein, ich machte mir auch Gedanken über meinen Fuß. Was, wenn es tatsächlich schlimmer war? Ich konnte ja nicht einmal genau sagen, was los war.
Jetzt wäre es tatsächlich praktisch, wären wir mit einem Arzt gestrandet. So einer wüsste, was zu tun wäre. Ein Teenager wusste es nicht.

Ich wartete und wartete. Schaffte es gerade einmal, mich in die fertigte Hütte zu schleppen, damit ich trinken konnte. Sie war nicht sonderlich groß, nicht geräumig. Aber sie spendete Schatten und ließ die Sonne nur durch einige wenige freie Stellen hindurch. Wenn es regnete wurden wir nass, aber Ira hatte sich überlegt, große, feste Blätter anzubringen. Vielleicht würde das helfen.
Es gab zwar keine Fenster, dafür aber eine Art Tür. Gut, sie funktionierte nicht wie eine richtige Tür, aber sie konnte uns besser schützen, als hätten wir keine. Ich hatte einfach einige Äste gesammelt und zusammengebunden, sodass wir sie gegen das vorhandene Loch lehnen konnten.
Sollte es hier einmal anfangen zu stürmen, mussten wir uns etwas anderes überlegen ...
Ich setzte mich, lehnte mich aber nicht gegen die Wand, weil ich die Befürchtung hatte, mein Gewicht könne sie stürzen. Die Tür hatte ich offen gelassen und so starrte ich mal wieder auf das weite, klare Meer hinaus.
„Ira", murmelte ich und wünschte mir wie so oft, eine Uhr zu haben, damit ich wusste, wie lange er schon weg war. „Wo bleibst du bloß?"

Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlug, lag ich auf dem Boden und die Sonne stand auch schon tiefer am Himmel. Kurz musste ich überlegen, was mich aufgeweckt hatte, doch dann hörte ich dieses Geräusch wieder.
„Ira?", fragte ich voller Hoffnung und stand – etwas zu ruckartig – auf. Der Schmerz, der durch meinen Körper schoss, ließ es mich bitter bereuen.
Von Glücksseligkeit getrieben, humpelte ich zur Tür, bei der ich allerdings nicht ankam. Jemand trat hervor, den ich durch die Sonne kaum erkennen konnte und versperrte mir den Weg nach draußen. Mein Herz setzte für einen Schlag aus und ich schwöre, ich hatte selten so einen Schock erlitten wie in diesem Moment.
Denn eines war klar: Diese Person war weder Ira, noch Jared.

Forgotten IslandWhere stories live. Discover now