Fakt siebenunddreißig

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Fakt siebenunddreißig: Manchmal muss etwas ausgesprochen werden, bevor man begreift.

Der Wind verfing sich in meinem ungekämmten Haar und schlug mir ins Gesicht. Vorsichtig lief ich auf den Rand der Klippen zu und sah für einen kurzen Moment aufs Meer hinaus. Heute war es stürmisch und aufbrausend. In regelmäßigen Abständen knallten die Wellen gegen die Steinwand, als wäre sie eine Mauer, die es zu durchbrechen galt. Es war ein atemberaubender Anblick, der sich mir bot. Das Wasser wirkte dunkler, mystischer als es sonst erschien. Auch der Himmel zog sich langsam zu. Würden wir ein Unwetter bekommen? Hier?

„Amelie?", schrie ich gegen den Wind an. Dann erinnerte ich mich, dass Einwohner hier sein könnten. Mein Herz machte einen Satz.
Doch als ich mich umsah und meine Augen nichts fanden, beruhigte ich mich wieder ein wenig und mein Herzschlag normalisierte sich. Dann rief ich mit aller Kraft noch einmal ihren Namen und wartete. War sie wirklich hier oder hatte sie mich bloß verarscht?
„Amelie!" Der Wind schien meine Stimme zu verschlucken. Ich versuchte einige der Höhlen zu erkennen, doch ich stand so ungünstig, dass ich fast gar nichts sah. Behutsam ließ ich mich auf die Knien sinken und legte mich flach auf den Bauch, während ich mich an die Steinwand klammerte. Mein Körper zitterte und ich hatte Angst, hinunterzufallen. Tief unter mir waren die Wellen, sanken in das schwarze Meer und manchmal berührten ein paar Tropfen mein Gesicht.

Ich robbte soweit nach vorne, bis ich glaubte, mich nicht mehr halten zu können. Dann beugte ich mich nach vorne und ließ meinen Blick an der Wand entlanggleiten. In den ersten Augenblicken konnte ich rein gar nichts erkennen und erst breitete sich Enttäuschung in mir aus, da ich glaubte, sie hätte gelogen, aber dann erkannte ich einige Einbuchtungen, die sich wohl als Höhle definieren lassen konnten.
„Amelie?", rief ich wiederholt mit bebender Stimme. Wie sollte sie mich durch diesen Geräuschpegel nur hören können? Ein Gefühl der Verzweiflung machte sich breit und haftete an mir. Doch runterzuklettern kam nicht infrage. Selbst ohne kaputten Fuß wäre ich nicht sportlich genug. Ich würde an den glitschigen Felsen ausrutschen und dann in die Tiefe fallen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie Amelie es geschafft hatte.

„Hinter dir", sagte plötzlich jemand und ließ mich zusammenzucken. Fast wäre ich nach vorne runtergeglitten, doch zwei Hände packten mich und zogen mich auf sicheren Boden zurück.
„Amelie, wo kommst du her?", fragte ich, ehe ich mich aufrichtete. Ihre Stimme hatte ich sofort erkannt.
„Ich war Früchte sammeln", antwortete sie und streckte mir bereitwillig ein paar Beeren entgegen. Dankbar nahm ich mir welche und ließ die süßen Früchte zwischen meinen Zähnen platzen.
„Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht mit dir gerechnet", meinte sie und sah mir fest in die Augen.

Plötzlich fiel mir der Grund für mein Erscheinen wieder ein und ich redete aufgeregt drauflos.
„Du musst mir helfen!", sagte ich und keuchte. „Ira, er ist nicht wiedergekommen und die Einwohner ..." Eine Gänsehaut überzog meine Arme und ließ mich erschaudern. „Sie waren am Strand und ... haben meine Hütte zerstört."
Amelie nickte verständnisvoll und legte in beruhigender Geste eine Hand auf meinen Arm.
„Ich habe dir angeboten, dich mir anzuschließen. Und ich halte mein Wort. Wir müssen nur zusehen, dass wir dich die Klippen hinunter bekommen. Ich glaube, hier sind wir erst einmal in Sicherheit."

Zugegeben, ich war gerührt von ihrem Angebot, dennoch schüttelte ich hastig den Kopf.
„Das ist nett, aber ich will meine Freunde da rausholen. Ira ist nur wegen mir da drin." Ich schluckte schwer, als ich merkte, dass das der Wahrheit entsprach. Hätte ich Ira nicht überredet zu gehen, wäre er jetzt hier bei mir.
Amelie lachte auf. Kurz und schrill. Mit einem Lachen zerschmetterte sie mir meine Hoffnung. Doch aufgeben tat ich nicht!
„Das kannst du vergessen, Liv", entgegnete sie. „Ich würde dir liebend gern helfen, aber das ist unmöglich. Du hast doch nicht den leisesten Schimmer, wer diese Leute sind. Das sind keine normalen Menschen. Es sind Wilde."

„Ich kann sie nicht aufgeben", schluchzte ich und spürte bereits Tränen auf meiner Haut.
„Sieh es als Lektion", antwortete sie zögerlich. „Mit ihnen legt man sich nicht an. Man versteckt sich." Mit einer ausladenden Handbewegung deutete sie auf die Klippen runter.
„Dann tun wir eben das, was man nicht tun sollte", schlug ich zögerlich vor, obgleich ich wusste, dass sie ablehnen würde.
Sanft schüttelte sie den Kopf. Ich glaubte, sie verstand mich. Aber sie willigte nicht ein.
„Bitte", flehte ich. „Hilf mir, sie zu holen."

Amelie hielt mir noch weitere Beeren hin, ein Friedensangebot vielleicht. Ich hätte gerne abgelehnt, damit sie wusste, dass sie mich nicht bestechen konnte. Jedoch war mein Hunger stärker. Also griff ich noch einmal zu. Zufrieden lächelte sie.
„Komm schon." Ich bettelte, doch meine Hoffnung schwand, während mein Herz sich schmerzlich zusammenzog. Diese Situation erinnerte mich stark an meine Eltern, wenn ich versuchte, sie zu etwas zu überreden. Doch dies war nie von solcher Dringlichkeit gewesen.
„Und was dann?", fragte sie, wurde lauter und bestimmender. „Dann wissen sie, dass es uns gibt. Bei mir wissen sie es ohnehin schon. Wenn wir das tun, Liv, dann töten sie uns. Noch hast du Glück gehabt und vielleicht kannst du hier in Ruhe weiterleben. Vielleicht denken sie, die Hütte wäre von Jared und Ira und rechnen nicht mit dir."

Fassungslos starrte ich die Frau vor mir an. „Ich will hier nicht in Ruhe leben. Ich will weg. Und das mit meinen Freunden!" Plötzlich fühlte ich mich wie ein kleines Kind in der Blüte seiner Trotzphase. Fehlte nur noch, dass ich die Unterlippe vorschob und mit dem Fuß auf dem Boden aufstampfte.
„Denkst du, ich wäre noch hier, wenn man diese Insel verlassen könnte?", fragte sie und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Oder hast du irgendeine Möglichkeit?" Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen, begutachtete mich aber dennoch.
„Nein", schüttelte ich den Kopf und ließ meinen Blick zu Boden sinken.
„Siehst du", antwortete sie, ganz nach dem Motto 'Ich hab's dir gesagt'.
„Ohne dich schaff ich das aber nicht!", protestierte ich. „Ich brauch meine Freunde", fügte ich flüsternd hinzu. „Der eine hat sogar eine kleine Tochter." Vielleicht half das ja ...
„Die wird er ohnehin nie wieder sehen", antwortete sie beinahe gleichgültig.
Wie ... unfair!

„Sie brauchen unsere Hilfe! Und ich habe keine Ahnung, wo ich sie suchen soll", gab ich zu und sah sie flehend an. Irgendetwas musste sie doch umstimmen!
Und dann fiel mir etwas ein.
„Jared", murmelte ich leise und biss mir auf die Unterlippe. „Er ist mein Freund und ohne ihn wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben." Gut, das war gelogen. Wäre er nicht gewesen, würde ich jetzt gemütlich zu Hause sitzen. „Und Ira ...", murmelte ich und dachte nach, was ich sagen konnte. „Er ist der ... einfühlsamste Kerl, dem ich je begegnet bin. Und ... und ..." Ich rang nach den richtigen Worten. „Ich liebe ihn!" Als die Worte meinen Mund verlassen hatten, zuckte ich leicht zusammen. Ich hätte es nicht gedacht, aber seltsamerweise fühlte sich das gar nicht so falsch an, obwohl ich es im ersten Moment nicht so gemeint hatte.
Ich sah wie ihre Augen einen weichen Ausdruck annahmen. Sie rang mit sich, das wusste ich. Dann schnaubte sie, schüttelte den Kopf und sah mich wütend an.
„Gut. Ich werde dich zum Professor bringen. Vielleicht kann er dir helfen. Aber dann bin ich raus."

Forgotten IslandWhere stories live. Discover now