Fakt vierundzwanzig

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Fakt vierundzwanzig: Irgendwann kommen die Sorgen.


„Ira", rief ich plötzlich so laut, dass selbst ich beim Klang meiner Stimme zusammenzuckte. Ich stand auf und hastete durch den heißen Sand, der sich um meine nackten Füße grub. „Was ist, wenn die Anderen ein Boot gehabt hätten?", fragte ich. Vor Aufregung war mir schon ganz schwindelig.
„Dann hätten sie ihre Ärsche von der Insel bewegt, Mädchen", hörte ich Jared hinter mir sagen. Ruckartig drehte ich mich um. Mist, ich hatte ihn nicht wecken wollen. Als ich in sein Gesicht blickte, erschrak ich. Ihm war alle Farbe gewichen und ließ nun einer Blässe Platz, die ganz unnatürlich erschien. Er schwankte leicht, als er auf uns zukam.

„Geht's dir gut?", hauchte ich und sah ihn besorgt entgegen.
„Er hat recht", erwiderte Ira stattdessen und ließ einen Stock fallen, den er eben noch in seinen Händen gedreht hatte.
„Aber was ist, wenn es kaputt ist? Was wäre, wenn sie es nicht reparieren konnten?", entgegnete ich weiter und hörte vorerst auf, mir über Jared Gedanken zu machen.
„Dann können wir es auch nicht", antwortete er und ließ sich in den erwärmten Sand fallen. Ich drehte mich wieder zu ihm um. Sein T-Shirt war um die Wunde gebunden und war an vielen Stellen blutig. Dennoch sah es nicht so aus, als würde die rote Flüssigkeit noch immer aus seinem Arm treten.

„Vielleicht ja doch", sagte ich zuversichtlich. Wenn wir schon nicht mit einem Floß weg konnten, dann möglicherweise mit einem Boot.
„Wie soll das gehen? Ein Pilot, der nicht einmal fliegen darf, eine Schülerin, die in ihrem Leben nur den neusten Tratsch im Kopf hatte und ein ..." Er sah zu Ira rüber und schien ernsthaft nachzudenken. „Ein Nichtsnutz."
„Ich weiß, dass wir es schaffen können. Wer weiß, was das für Menschen gewesen sind? Wir sind besser als die. Wir packen das. Als Team", sagte ich, um sie davon zu überzeugen, dass wir es schaffen konnten. Denn solange es noch Hoffnung gab, war nichts verloren.

„Wir wissen nicht, ob es ein Boot gibt", antwortete Jared. Seine Stimme klang immer rauer, ungläubig.
„Ich denke, dass Liv richtig liegen könnte. Wir suchen die Strände der Insel ab. Zeit haben wir zumindest genug."
Ich atmete tief durch und fühlte mich plötzlich viel leichter. Ich hatte Ira auf meiner Seite. Und solange das so war, gab es Chancen für uns.
„Nein!", knurrte Jared und in seinem Gesicht veränderte sich etwas. „Keiner durchsucht die Insel. Wir bleiben hier!" Was sollte das denn jetzt?

„Jared, das ist eine Chance!", redete Ira weiterhin auf ihn ein und atmete tief durch. Zusammen wirkte das ganze Szenarium irgendwie verdreht. Jared saß im Sand und blickte verzweifelt zu Ira auf, wie ein Kind, welches seinen Dad versucht zu überreden.
„Wartet wenigstens bis morgen, dann bin ich fit genug, das selbst zu übernehmen."
Besorgnis zeichnete sich in Ira's Gesicht ab. Ich fühlte mich wie eine Zuschauerin, jemand, der nicht am Geschehen teilnahm, sondern einfach nur dastand und nichts tat.
„Wie schlimm geht es dir, Jar?", fragte Ira und hockte sich vor seinen Onkel, um ihm direkt ins Gesicht zu sehen.

„Gar nicht schlimm", antwortete er, aber ich sah, wie blass er durch seine eigentliche Bräune war. „Etwas übel ist mir, ein bisschen schwindelig vielleicht. Aber das liegt nicht an dem Schnitt."
„Woran denn sonst?", fragte ich, aus meiner Starre erlöst.
„Die Sonne, Mädchen. Sie ist es, die mir zu schaffen macht." Ich lachte kurz auf, ermahnte mich dann aber wieder, dass das alles andere als lustig war.
„Wir sind nicht erst seit gestern hier und die Sonne ist die ganze Zeit so heiß", diskutierte ich.
Jared schüttelte den Kopf und sah mich funkelnd an. „Lass gut sein, Mädchen", keifte er, was sich aber nicht ganz so feindselig anhörte wie sonst.
„Wenn du willst, dass wir dir helfen, musst du uns schon sagen, was los ist. Wir müssen zusammenhalten. Wie auch sonst sollten wir hier überleben können? Also Jared, sag einfach ..." Weiter kam ich nicht, denn Jared schnitt mir das Wort ab.

„Meine Güte, ich kann kein Blut sehen, Mädchen! Selbst beim Gedanken daran, könnt ich kotzen."
Was? Gut, das hatte ich nicht erwartet.
„Aber ...", setzte ich an. „Als du dich geschnitten hattest, konntest du es auch sehen, ohne dich zu übergeben."
„Hab mich zusammengerissen", grummelte er.
Ira nickte schwach, sein Blick glitt zu mir und wollte mir bedeuten, dass ich es sein lassen sollte.
„Ruh dich erst einmal aus, Alter. Liv und ich besorgen was zum Futtern."

Etwas unbeholfen stand er wieder auf und zwinkerte mir zu. „Komm", murmelte er und zog mich mit sich. Mit einer bedrückenden Stimmung betraten wir den Dschungel und gingen erst ein paar Minuten lang, ehe ich mich traute, etwas zu sagen.
„Was meinst du, sollen wir tun? Denkst du, dass wir noch etwas zu befürchten haben?", fragte ich und zuckte mit den Schultern.
„Soll ich ehrlich sein?", antwortete Ira, sah mich dabei aber nicht an. Ich gab ein zustimmendes Geräusch von mir, damit er weitersprach. „Ich weiß es nicht."
In meinem Innersten bereitete sich ein ungutes Gefühl aus. Diese ganze Sache war einfach viel zu groß für uns. Wir waren nicht dazu geboren, um auf einer Insel zu überleben.

„Denkst du, Jared lügt? Könnte das Messer doch Schuld sein?", fragte ich und nestelte am Saum meines T-Shirts herum. Unbewusst ließ ich meine Hand zu meinen Rippen gleiten und dachte unwillkürlich, dass es damals wohl doch nicht so schlimm gewesen sein konnte. Mittlerweile fühlte ich mich lediglich schwach, ausgelaugt. Ich hatte ein Gefühl wie, als würde ich eine Erkältung bekommen. Auf Dauer war das ziemlich anstrengend, aber dennoch erträglich.
„Ja", grummelte er und stieß geräuschvoll Luft aus seinen Lungen. In diesem Moment hätte ich gerne gewusst, wie es Ira überhaupt ging. „So ein Schnitt würde ihn nicht krankmachen. Aber überleg' mal, das Messer gehörte vor uns anderen Menschen, die weiß Gott was damit angestellt haben. Es ist schon total verrostet und alt. Vielleicht hat er Recht und es geht ihm gerade wegen dem Blut schlecht, aber ich denke, dass es nicht verkehrt wäre, sich Sorgen zu machen."

„Hätten wir bloß irgendetwas zum Desinfizieren", murmelte ich und strich mir meine leicht fettigen Haare hinters Ohr. Ohne Shampoo war es nicht gerade einfach, sie immer sauber zu halten.
„Weißt du was cool wäre?", meinte Ira nach einer Weile, in der wir ein paar Früchte gesammelt hatten. „Wenn wir mit einem Arzt gestrandet wären. Wie in 'Lost', verstehst du?"
Ich schüttelte den Kopf. „Kenn' ich nicht", erwiderte ich nüchtern. „Aber ein Arzt hier zuhaben wäre wirklich was."
„Vielleicht kommen wir auch ohne jemanden mit einer medizinischen Ausbildung durch", meinte Ira nach ein paar Sekunden der Stille.
„Fragt sich nur, für wie lange."


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