Fakt einunddreißig

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Fakt einunddreißig: Die Welt dreht sich weiter.

Die Sekunden wurden zu Minuten, lösten sich ab durch Stunden, verwandelten sich in Tage und endeten schließlich als Wochen.
Mittlerweile hatte es ein paarmal geregnet, wodurch die Luft sich zeitweise abgekühlt hatte. Ira und ich hatten die Hütte fertig gebaut und hatten noch mehr an Körpergewicht verloren. Meine Klamotten waren mir inzwischen zu groß geworden und hingen schlaff an mir herunter.
Seit meinem einen nächtlichen Erlebnis mit Jared hatten wir ihn nicht wieder gesehen. Die ganze Insel hatten wir nach unseren Möglichkeiten abgesucht. Zweimal. Dreimal.

Selbst im Meer sind wir gewesen, doch wir fanden keine Spuren. Er war verschwunden. Diesmal sogar endgültig.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber ohne ihn war es hier sogar noch schlimmer. Jetzt gab es nicht nur die quälenden Stunden, in denen wir nicht wussten, ob wir je wieder gerettet werden würden, sondern auch die Angst und Ungewissheit, was mit Jared passiert war. So gut es ging versuchten wir uns abzulenken, aber es war klar, dass wir in mächtigen Problemen steckten. Aus drei gestrandeten Menschen wurden Zwei. Wir sprachen es zwar nicht aus, jedoch wussten wir, dass es sich jederzeit ändern konnte und einer von uns allein dastehen würde. 

„Ich könnte dir eine Schaukel bauen", sagte Ira als er sich zu mir setzte. Ich lachte kurz auf und nahm seinen Vorschlag wirklich Null ernst.
„Und wie willst du das bitteschön anstellen?"
Er sah mir grinsend entgegen und deutete dann auf einen Haufen mit Materialien, die wir nicht für die Hütte genutzt hatten.
„Dort drüben liegt noch ein Seil. Es scheint gut erhalten zu sein und wenn wir es an zwei der Palmen binden, hättest du eine Schaukel mit Blick aufs Meer", schlug er vor. Er sah hoffnungsvoll aus, in seinen Augen lang ein Glanz, den ich schon ewig nicht mehr gesehen hatte. Ich sollte 'ja' sagen. Vielleicht würde ihn das glücklich machen. Also nickte ich und Ira schien sich wirklich darüber zu freuen.

„Gut, dann mach ich mich gleich an die Arbeit", sagte er und stand wieder auf. Ohne darüber nachgedacht zu haben, hielt ich ihn am Arm zurück.
„Du, Ira?" Meine Stimme war leise und brüchig, weil ich ganz genau wusste, worauf das hier hinauslaufen musste. „Was glaubst du, was mit ihm passiert ist? Mit Jared meine ich?"
Er wandte mir sein Gesicht zu und ich erkannte ganz klar den Ausdruck von Schmerz auf ihm.
„Hatten wir dieses Gespräch nicht oft genug?", murmelte er, setzte sich aber trotzdem wieder neben mich in den warmen Sand.

„Ich weiß, es ist nur so ... Es ist wirklich ... seltsam", gestand ich, wobei er das ja schon wusste. Als er nichts erwiderte, sprach ich weiter. „Die einzige Erklärung für sein Verschwinden wäre, dass er abgehauen ist. Oder ertrunken."
Ich hörte wie Ira tief seufzte und aufs Meer hinausschaute. Ich folgte seinem Blick und konnte mir schon denken, was gerade durch seinen Kopf ging. Jared wäre nicht einfach so gegangen. Vor allem nicht in seinem Zustand.
„Deine zweite Theorie könnte stimmen", gab Ira nach einer Weile zu. „Waghalsig ist er schon immer gewesen." Wir schwiegen einige Minuten, vielleicht auch länger. Leider war es kein angenehmes Schweigen, wie es manchmal in Büchern beschrieben wurde. Es war ganz und gar furchtbar. Die ganze Zeit über wollte ich es durchbrechen, doch ich fand einfach nicht die richtigen Worte dazu. Nicht einmal die Falschen.

„Er könnte aber auch entführt worden sein", sagte Ira schließlich und sprach wieder einmal das aus, was ich nicht hören wollte.
„Das würde aber bedeuten, dass es noch mehr Menschen auf dieser Insel gibt. Das ist dir klar, oder?" Ich schloss die Augen und ließ den Nachklang meiner Worte auf mich wirken. Somit wären wir nicht allein. Und wenn das stimmen würde, würde es heißen, dass sie Jared verschleppt hätten. Aber warum denn nicht auch uns? Wenn sie bloß einen von uns entführt hätten, dann wären sie sicherlich zurückgekommen ... Oder?
Dann kam mir noch ein anderer Gedanke, der mich mehr verstörte als alles andere.

„Nur mal angenommen, man hätte Jared entführt", begann ich. „Wäre es dann möglich, dass er sogar noch lebt?"
Ruckartig drehte Ira seinen Kopf zu mir um. Ich sah, wie er darüber nachdachte und meine Idee für gar nicht mal so abwegig befand.
„Du willst mir also damit sagen, dass Jared noch leben könnte?", wiederholte er und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich nickte stumm.
„Wobei wir die ganze Insel durchstreift haben. Wären dort Menschen gewesen, hätten wir sie finden müssen", sagte ich, war einen Moment tatsächlich überzeugt davon, verwarf den Gedanken dann aber doch wieder. „Es sei denn, wir haben etwas übersehen. Zwei unerfahrene Gestrandete gegen wer weiß wie viele Menschen, die hier womöglich aufgewachsen sind. Aber was ist mit den Toten, die wir gefunden haben? Gehörten sie vielleicht dazu oder haben sie sich vor denen versteckt?" Langsam verstrickte ich mich immer mehr in diesem Gewirr aus Möglichkeiten, eine schlimmer als die andere.

„Das ist die Frage", hauchte Ira, während er mich musterte. „Das alles ist so absurd, dass da schon wieder was dran sein könnte." Er machte eine kurze Pause. „Wir sind Tage über die Insel gelaufen, jedoch ohne Karte, ohne Anhaltspunkte. Du könntest recht haben."
Noch ehe er den letzten Satz richtig ausgesprochen hatte, zerriss ein Geräusch die geladene Luft zwischen uns. Zuerst schienen wir uns verhört zu haben, doch dann ertönte es ein weiteres Mal. Deutlich. Unmissverständlich. Jemand schrie.

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