Fakt dreiunddreißig

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Fakt dreiunddreißig: Es gibt Freund. Und es gibt Feind.

Mein lautes Kreischen erklang in der kleinen Hütte und ließ selbst mich zusammenzucken. Zugegeben, es war nicht die beste Reaktion, ich hätte gelassener sein können, hätte überlegen wirken sollen, doch in diesem Moment erschien es mir angebracht. Ich hätte es ohnehin nicht unterdrücken können.
„Nicht so laut!", zischte die Person vor mir und trat einige Schritte auf mich zu. Automatisch ging ich rückwärts, wurde allerdings viel zu schnell von der Seitenwand gestoppt.

„Wer bist du, verdammt nochmal?", fragte sie und endlich konnte ich sie besser erkennen. Es war eindeutig eine junge Frau in den Mittzwanzigern, vielleicht etwas älter. Ihre Haut war so doll gebräunt, dass es entweder ihre Naturfarbe war, oder sie sehr lange hier sein musste. Blondes, verfilztes Haar (welches meine zweite Theorie unterstrich), umrahmtes ein doch recht hübsches Gesicht.
„Das gleiche könnte ich dich fragen", erwiderte ich mit ziemlich brüchiger Stimme, als ich mich endlich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Die Frau betrachtete mich skeptisch und hob fragend eine Augenbraue hoch.

„Amelie. Ich heiße Amelie."
Ich nickte. „Olivia", sagte ich dann, weil ich es nicht ausstehen konnte, wenn Fremde mich 'Liv' nannten.
„Gut, Liv", antwortete sie und hob ihr Kinn in die Höhe. Na klasse. Hatte wohl nichts genützt. „Und warum bist du hier?"
Ich merkte sofort, dass ich sie nicht ausstehen konnte. Sie wirkte ... nicht so wie ich. Auch wenn das nicht gerade weltoffen war.
Als ich nichts sagte, wiederholte sie die Frage. Demonstrativ biss ich mir auf die Zunge. Sollte sie doch zuerst sagen, was sie hier tat. Doch dann überlegte ich es mir anders. Es interessierte mich brennend, wieso sie hier war, woher sie kam. Und ob sie eine Möglichkeit hatte, von dieser Insel zu kommen. Wenn ich sie mir genau ansah ... Nein, auch sie kannte keine Alternative.

„Ich bin gestrandet", gab ich also zerknirscht zu. Dann deutete ich auf ihre Person.
„Ebenfalls", murmelte sie und setzte sich auf den Boden. Ich wusste ja, dass es kein Luxushaus war, aber es war meins. Und ich fand es so gar nicht witzig, dass sie sich mal eben zum Bleiben eingeladen hatte. „Das ist Jahre her", flüsterte sie und senkte ihren Blick nach unten.
Hörbar schnappte ich nach Luft? Jahre? Hieß das, dass wir hier nie mehr wegkamen? Dann fielen mir die anderen Menschen ein.
„Gehören die Leichen zu dir?", fragte ich, stellte fest, dass es wenig taktvoll war, tat es dann aber gleichgültig ab.
Amelie nickte und wirkte dabei irgendwie traurig. Konnte ich ihr trauen? Die Frage nistete sich in meinem Gehirn ein. Vorsichtshalber blieb ich lieber stehen, immer zum Abhauen bereit.

„Du bist nicht alleine hier", sagte sie plötzlich und sah mir tief in die Augen.
Ich schnaubte. „Woher willst du das bitteschön wissen?" Okay, das klang etwas bissiger als beabsichtigt. Unauffällig schielte ich nach draußen, damit ich nach Ira Ausschau halten konnte.
„Weil ich vielleicht mehr über diese Insel weiß als du, Mädchen."
„Was?!", schrie ich, während mein Herz in einer schwindelerregenden Geschwindigkeit schlug. 'Mädchen', so nannte mich nur Jared. Hieß das etwa ...?
„Du ...", begann ich dann, wusste letztlich aber nicht, was ich ihr sagen wollte.

„Hast du Wasser?", fragte sie plötzlich, ohne auf mich einzugehen. Unsicher schielte ich zu meiner Flasche herüber, dachte aber, es würde nicht schaden, wenn ich ihr etwas abgab. Fehlanzeige. Gierig trank sie meine ganze Flüssigkeit leer, die ihr am Kinn entlang rann. Bald würde ich Neues holen müssen.
„Du hast mich 'Mädchen' genannt", fing ich vorsichtig an. Besser, wenn ich erst einmal nicht zu viel verriet. Immerhin kannte ich diesen Menschen vor mir nicht. Vielleicht war sie eine Wilde ... Aber sie sprach fließend englisch. Sie war also doch irgendwie zivilisiert.
„Bist du denn keines?", entgegnete sie. Mir entging nicht, dass sie sich etwas zu hektisch nach hinten umsah.
„Sicher", murmelte ich unsicher und folgte ihrem Blick. „Bist du diejenige gewesen, die im Dschungel geschrien hat?", fiel mir ein. Sie antwortete zwar nicht, wirkte aber auch nicht ertappt. Außerdem schien sie sehr darauf bedacht zu sein, dass sie unentdeckt blieb.

„Ich muss jetzt gehen. Kann nicht riskieren, dass sie mich finden." Was? Nein! Amelie stand auf und reichte mir die Flasche. „Danke fürs Wasser." Als sie sich umdrehen wollte, hielt ich sie am Arm fest.
„Wohin willst du?", fragte ich sie. Ich bekam Angst, dass sie mir nichts mehr sagen könnte. Und vor wem fürchtete sie sich? Musste ich ebenfalls in Panik ausbrechen? „Wo kommst du her?"
Amelie drehte sich kurz zu mir um. „Es gibt Freund und Feind auf dieser Insel", gab sie zur Antwort, jedoch war diese nicht sehr befriedigend.

„Was meinst du damit?", fragte ich nach und umfasste ihren Arm noch ein wenig fester. Sie wehrte sich aber auch nicht.
„Wir sind nicht sicher", hauchte sie. „Nicht mehr. Sobald sie wissen, dass man existiert. Hier." Amelie legte eine kleine Pause ein. „Das ist nicht gut."
Wenn ich ihr doch jetzt nur diese eine Frage stellen könnte ...
„Bist du Freund oder Feind?", traute ich mich dann doch endlich zu sagen.
Ich rechnete schon mit dem Schlimmsten. Vielleicht zückte sie gleich ein Messer und würde es mir in den Bauch rammen. Oder mich essen. Oder was auch immer Wilde taten. Aber sie lächelte nur milde und griff nach meinen Fingern.

„Freund", wisperte sie und für einen Moment beruhigte ich mich unter ihrer Berührung sogar ein bisschen.
„Aber euer Freund, Jared. Er ist beim Feind."

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