Fakt zweiundzwanzig

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Fakt zweiundzwanzig: Zeit ist ein dehnbarer Begriff.

„Kommst du voran?", rief ich und schirmte mit der Hand meine Augen ab, während ich Jared beobachtete.
„Seh ich so aus, Mädchen?", antwortete er genervt. Wenn Blicke töten könnten ...

Inzwischen waren wir seit ungefähr zwei Monaten auf der Insel gestrandet. Vielleicht etwas mehr, vielleicht weniger, aber wen interessierte das schon? Nun ja, schade war es, dass wir keine Geburts- oder Feiertage einordnen konnten, aber auf der Insel schien sowieso alles an Bedeutung abzunehmen.
Unsere Hoffnung ein Boot, ein Flugzeug oder sonst etwas, könne uns in den ersten Tagen hier retten, war nun vollends verflogen. Niemand war gekommen. Keiner wusste, dass wir überhaupt noch am Leben waren.
Dennoch warteten wir jeden Tag darauf, dass etwas passierte.

Ich hatte abgenommen, so viel, dass meine Rippen und die Hüftknochen hervorstachen. Auch Ira und Jared hatten an Gewicht verloren, was bei ihnen jedoch nicht so auffällig war. Meine Haut, die immer demonstrativ blass geblieben war, hatte nun eine ansehnliche Bräune bekommen. Unsere ganzen Körper waren übersät von den Spuren der Insel. Kratzer, Blutergüsse, Schnitte.
Schlimmer als das alles, waren allerdings unsere depressiven Phasen. Ira bewahrte zwar seine Fröhlichkeit, wirkte aber zusehendes unsicherer und Jared ging noch leichter an die Decke als ohnehin schon.
Ich glaubte, er dachte immerzu an seine kleine Tochter. Je mehr Zeit verstrich, desto unwahrscheinlicher war es, dass er sie je wieder lebend sehen würde. Er wusste, dass der Kleinen nicht mehr viel Zeit blieb und mir war klar, dass er diese lieber bei ihr verbringen wollte. Seine Traurigkeit war mit jeder Faser meines Körpers spürbar. Dennoch sprach ich ihn nicht darauf an. Er würde schon reden, wenn er denn dazu bereit war.

Nachdem wir die Hütte gefunden hatten, wollte Ira unbedingt auch eine haben. Er war der Meinung, dass es uns die Zeit, in der wir warteten, vertreiben würde und uns etwas Schutz bieten könnte. Ich musste sagen, dass die beiden Männer wirklich nicht sehr talentiert waren.
Aber gut, wir besaßen ja auch kein Werkzeug.
Zwar würde es nur eine klapprige, labile Hütte werden, die vermutlich wenig Platz bieten könnte, aber es wäre ein Ort zum Schlafen, wo unsere Haut nicht verbrennen würde.
Wir hatten Holz geholt und Jared hatte irgendein Zeug zusammengemixt, mit dem das Häuschen angeblich halten sollte. Außerdem hatten wir Brauchbares aus der anderen Hütte entfernt und für unsere Eigene benutzt. Ein paar rostige Nägel waren auch dabei gewesen.

„Du kannst gerne auch mal deine manikürten Finger schmutzig machen!", schrie Jared und warf irgendetwas nach mir, was mich jedoch verfehlte. Manikürt, dachte ich. Na klar.
„Gib mir mal das Brett", meinte er dann und zeigte auf ein Stück Holz. Dieses war ebenfalls aus dem Unterschlupf der anderen Menschen und ich fragte mich willkürlich, woher diese es hatten.
Ich gab es ihm. 

„Kannst du mein Shirt waschen?", fragte er und nickte in die Richtung, wohin er es gelegt hatte.

Sein nackter Oberkörper glänzte vom Schweiß und er war noch brauner geworden, als ich es für möglich gehalten hätte.
„Vergiss es", erwiderte ich Augenrollend. „Ich bin nicht deine Putzfrau."
„Einer für alle, alle für einen, Mädchen", knurrte er und versuchte gerade eine zusammengebaute Außenwand aufrecht zu halten. „Wo bleibt der Mistkerl nur?" Ich sah mich nach Ira um, konnte ihn jedoch nicht entdecken.
„Er wollte Wasser holen", seufzte ich und trat in den Sand. „Ich guck mal nach ihm." Eigentlich hätte ich das Netz neu knoten müssen, da es sich nach dem letzten Fischfang an einigen Stellen wieder geöffnet hatte, doch jetzt machte ich mich auf den Weg zu unserem offiziellen Eingang in den Dschungel. Wir hatten ein paar Äste und Sträucher abgeschlagen, sodass eine Öffnung gut erkennbar war, um sicherzugehen, dass wir immer die gleiche Stelle benutzten.

Mittlerweile hatten wir auch andere Dinge zum Essen gefunden. Exotische Früchte, von denen ich eine als Brotfrucht erkannt hatte, und Jared hatte ein paar Kleintiere erlegt, dessen Namen ich nicht kannte und wo ich mich vorerst geweigert hatte, sie zu essen. Aber natürlich hatte der Hunger gesiegt. Nährhaft war das alles trotzdem nicht. Wir sammelten jetzt regelmäßig Früchte im Dschungel. Immer zu zweit. Doch Wasser holen taten wir alleine, weil es immerzu an dem gleichen Ort war. Ira hatte in der Nähe der Hütte eine sauberere Quelle entdeckt, welche die anderen Menschen wohl genutzt hatten. Dabei standen zwei größere Behälter, in denen sich noch abgestandenes, stinkendes Wasser befunden hatte.
Wenn man den Weg dutzende Male geht, kennt man ihn irgendwann auswendig. Vieles was zu Anfang noch neu war, fühlte sich nun selbstverständlich an und genau das machte mir Angst.

Doch gerade als ich den Dschungel betreten wollte, kam Ira mir mit je einem Wasserbehälter in der Hand entgegen.
„Da bist du ja", grinste ich und nahm ihm einen Behälter ab. Sein schweres Gewicht erleichterte mich jedes Mal. Es bedeutete, dass wir reichlich Wasser hatten, welches wir alle dringend nötig hatten. „Ich glaube, Jared braucht Hilfe." Ich hörte ihn aus der Ferne fluchen.
„Die brauchen wir alle", flüsterte er so, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Ich wusste nur zu gut, was er damit meinte.
„Vielleicht sollten wir ein Floß bauen", schlug ich vor, als wir das Wasser zu der Hütte schleppten. Mein Mund war staubtrocken, doch ich wollte warten, bis ich die kühlende Flüssigkeit in meine kleine Flasche füllen konnte.
„Hast du denn wirklich nie  Filme gesehen, Liv? Ein Floß zu bauen funktioniert nicht. Das weiß doch wirklich jeder." Sachte schüttelte er den Kopf und sah mich dann wieder an. Sein Blick war leerer geworden, entkräftet.
„Möglicherweise klappt es aber in der Realität. Wie viele deiner Filme sind von der Wahrheit inspiriert worden?" Ich zuckte mit den Achseln und sah ihn auffordernd an. Aufgeben war noch nie meine Stärke gewesen.
„Von mir aus kannst du eins bauen", sagte Ira nach einer kurzen Pause. „Aber ich werde nicht zulassen, dass du damit auf den offenen Ozean hinausschwimmst."
Seine Worte lösten seltsamerweise eine warmes Prickeln in mir aus. Ich konnte dankbar sein dafür, dass jemand, der sich so fürsorglich verhielt, mit mir hier war. Vielleicht würde seine Vorsicht mir irgendwann mal das Leben retten.

„Verdammt", brüllte Jared plötzlich und zerriss die natürlichen Geräusche der Insel. Sein Stöhnen klang schmerzverzerrt und trieb mir eine Gänsehaut auf die Arme. Reflexartig ließ ich meinen Behälter fallen und rannte mit wild schlagendem Herzen auf die Hütte zu.
Dann sah ich, wie Jared's Blut den weißen Sand färbte.

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